Geliebter, betrogener Mann
Stationsarzt gesagt. »Ihr Herz ist noch sehr schwach, und es dauert auch noch etwas, bis wir den hohen Blutverlust ausgeglichen haben. Also, Herr Petermann: fünf Minuten!«
Fünf Minuten sind eine lange Zeit, wenn man sie erwartet, aber sie sind flüchtiger als ein Wimpernzucken, wenn man sie wie Petermann in einer solchen Situation erleben muß. Deshalb hatte er vorher einen genauen Plan entworfen, gewissermaßen einen Aufmarschplan. Fünf Kinder standen zur Verfügung, pro Kind eine Minute – futsch ist die Zeit. Kamen immer zwei zu zwei, so gewann man zwei Minuten, und so geschah es denn auch. Nach zwei Minuten Händestreicheln und einem vorsichtigen Kuß auf die bleiche Stirn Annas kamen zuerst die beiden Ältesten. Sie gratulierten im Chor, gaben der Mama einen Kuß und verschwanden. Die beiden nächsten … Sprüchlein, Kuß, raus … am Ende das Jüngste … es sagte mit leiernder Stimme ein Gedicht auf, Kuß, raus. – Petermann sah auf die Uhr. Noch dreißig Sekunden …
»Anna!« sagte er leise und streichelte ihre Hand, »ich bin so glücklich.«
»Es ist mein schönstes Weihnachtsfest, Gotthelf.« Das Sprechen fiel ihr schwer, und sie versuchte auch, zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse.
»Ich muß jetzt gehen, Anna.«
»Du kommst aber wieder?«
»Morgen, und jeden Tag. Und wenn du dann wieder nach Hause kommst …«
Die Stationsschwester kam herein. Petermann sah wieder auf die Uhr.
»Ihr seid aber genau, wie beim Militär«, maulte er, lief zurück zum Bett und küßte Anna noch einmal auf den blutleeren Mund. Dann rannte er hinaus, und man hörte durch die offene Tür, wie auf dem Flur die Kinder auf ihn einstürmten und ihn mit Fragen überfielen.
Anna lag zufrieden in den Kissen. Sie faltete die Hände, während die Schwester die Blumen in die Vase stellte und das Bett aufschüttelte.
»Ist er nicht ein lieber Mensch, mein Gotthelf?« sagte sie versonnen. »Nun haben wir sechs Kinder, und er ist immer noch wie früher.«
Das Weihnachtsfest in Oberholzen war ein Fest der völligen Abgeschiedenheit. Über Nacht hatte es wieder geschneit; ungeheure Schneemassen deckten das Dorf und die Täler zu, machten die einzige Straße unpassierbar. Oberholzen war von der Außenwelt abgeschnitten, nur das Telefon überbrückte noch die Hindernisse und das Radio. Im Gasthof ›Zur Sonne‹ kamen am Heiligen Abend für eine Stunde die Honoratioren des Dorfes zusammen, hockten auf den hölzernen Schemeln um den runden Stammtisch, tranken zwei Viertel Wein, wünschten sich ein frohes Fest und berieten, daß Oberholzen – schon fünf Jahre redete man darüber – dringend einen Schneepflug brauche, um die einzige Verbindung zur Welt, die Straße, schneefrei zu halten. Auch jetzt zeigte es sich wieder, daß die modernen Menschen nicht mehr die Kraft ihrer Vorfahren in den Beinen hatten, die noch durch den tiefen Schnee zum nächsten Ort stapften. Heute fuhr alles Auto, und Oberholzen mußte sich den Erfordernissen der Neuzeit anpassen.
Nach dieser Beratung, die sich jedes Jahr wiederholte und bei der man sich heiß redete, gingen die Männer wieder auseinander und zu den eigenen Weihnachtsbäumen. Die Gaststube wurde geschlossen … Weihnachten war gekommen.
Im Zimmer Nr. 3 saßen Michael und Gerda Pohland an dem kleinen Tisch am Fenster und sahen in die flackernden Kerzen, die die Frau Wirtin samt einem kleinen Tannenkranz auf den Tisch gelegt hatte. Über die unendlich wirkende Schneelandschaft flatterte dünn das Läuten einer Glocke. Die Dunkelheit war fahl und drückend, kaum ein Licht flimmerte durch die Schneehaufen und verriet, daß dort ein Haus stand, daß dort Wärme war, weihnachtliche Erwartung, ein geschmückter Baum, ein Tisch mit Geschenken, glänzende Kinderaugen und pfeifenrauchende Männer mit Gesichtern wie knorrige Wurzelstöcke. In den Küchen standen die Frauen am Herd und kochten und backten. Es war eine wirkliche stille Nacht, eine Nacht vollkommener Einsamkeit.
Gerda legte die Hand auf Michaels Arm. Er zuckte zusammen, als habe sie ihn aus einer anderen Welt gerissen.
»Ja?« sagte er.
»Du bist so schweigsam, Micha.«
»Ich habe an vieles gedacht …«
Sie nahm die Hand von seinem Arm, als empfinde sie wieder Scheu vor jeder Berührung.
»Du hast mir noch immer nicht gesagt, wie alles werden soll.«
Michael Pohland legte die Hände um eine der Kerzen, als müsse er sie wärmen. »Wie kannst du so fragen, Gerda? Das Leben wird wunderschön werden, so, wie wir es
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