Geliebter, betrogener Mann
aber Dr. Dornburg winkte ab. Er nahm den abgerissenen Puppenarm vom Boden und blickte kurz auf den zurückgewichenen, fahlblaß gewordenen Pohland.
Tutti saß auf dem Boden und hieb mit den Füßen auf die Decke. Sie stieß Gerda weg, als diese sie beruhigend umarmen wollte, kroch weg von ihr zum Fenster und schrie weiter.
»Gehen Sie bitte hinaus, Herr Pohland«, sagte Dr. Dornburg leise. »Sie hat Ihre Augen genau betrachtet, und sie hat das in Ihrem Blick erkannt, was jeder empfindet, der so etwas sieht. Und sie versteht zu deuten … In diesem menschenunähnlichen Kopf sitzt ein Gehirn, das denken kann. Das ist ein schreckliches Phänomen, aber es existiert. Bitte, gehen Sie, dann beruhigt sich Tutti sofort.«
Fast fluchtartig verließ Pohland das Zimmer und lehnte sich draußen im Flur an die Wand. Mit zitternden Händen nahm er eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche.
»Darf man, Schwester?« fragte er die Stationsschwester, die vorbeiging. Er wußte, daß seine Stimme blechern vor Entsetzen klang, aber er sah keine Regung im Gesicht der Schwester. Man war es hier gewöhnt, fassungslose Menschen zu sehen.
»Natürlich«, sagte sie. »Ich bringe Ihnen gleich einen Aschenbecher.«
»Danke, Schwester.«
Hinter der Tür hörte das kreischende Schreien auf. Bis auf die Schritte der Schwester war wieder vollkommene Stille auf dem langen Flur.
Nach ein paar hastigen, tiefen Zügen sah Pohland an der langen Reihe der Türen entlang. Er zählte. Siebzehn Türen, dann der Querflur, auch noch einmal siebzehn Türen … vierunddreißig Zimmer, und in jedem Zimmer ein Wesen wie Theodora Sanders.
Langsam legte sich seine Erregung. Der Gedanke an Gerda und die Qual der hinter ihr liegenden sieben Jahre nahm in ihm überhand. Er stellte sich vor, wie sie entsetzt gewesen sein mußte, als ihr der Arzt und die Schwestern schonend beigebracht hatten, welches Kind sie geboren hatte. Er dachte an den Ingenieur Sanders, der ins Krankenhaus gekommen war, um seine kleine Tochter und die glückliche Mutter zu sehen und den man zur Seite führte, um ihm zu erklären, daß das Schicksal etwas Grausames mit ihm angestellt hatte. Und er dachte an die weiteren Jahre, in denen sie das Kind vor allen Blicken hier in Oberholzen verbargen, es besuchten und Hand in Hand vor diesem atmenden und greinenden Etwas standen, das einen Namen trug, das ein Lebewesen war, das man einen Menschen nennen sollte und das nur zwei große, blaue Augen besaß, aus denen das leuchtete, was man eine Seele nennt.
Jetzt verstand er auch Gerdas Flucht aus Lugano, ihre Weigerung ihn zu heiraten, die merkwürdige Hochzeitsnacht, ihre verzweifelte Liebe zu ihm, die jeder Hingebung auswich – immer in der Angst, wieder ein Kind zur Welt zu bringen, das nichts Menschenähnliches an sich hatte. Und er verstand auch das Schweigen Gerdas, aus der Panik heraus, ihn zu verlieren, wenn er diese schreckliche Wahrheit erfuhr. Sie hatte in verzweifelter Mutterliebe ein schreckliches Geheimnis mit sich herumgeschleppt und war durch ihre neue Liebe zu ihm in einen Zwiespalt geraten, aus dem sie keinen Ausweg mehr wußte. Auch jetzt mußte es so sein … sie war noch im Zimmer, sie spielte noch mit diesem Wesen. Und sie war dabei, sich damit abzufinden, daß sie mit dieser Stunde Michael Pohland verloren hatte.
»Nie«, sagte Michael laut. »Nie.« Er zerdrückte die Zigarette in dem marmornen Aschenbecher und wollte wieder ins Zimmer. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Gerda kam heraus. Dr. Dornburg blieb im Zimmer; er wußte, daß in diesen Minuten ein dritter völlig fehl am Platze war.
»Micha!« sagte Gerda leise. In ihrem Gesicht las er, was sie gedacht hatte. Das ist das Ende …
Er trat auf sie zu, ergriff ihre Hände und zog sie mit sich zum Fenster.
»Du bist dumm«, sagte er heiser vor Erschütterung. »Du bist so dumm, Gerda.«
»Nun weißt du es, Micha.«
»Es ist gut, daß ich es weiß.«
»Ich werde keine Schwierigkeiten machen, Micha.« Sie starrte aus dem Fenster über die verschneiten Berge. Die Sonne war durch den Schneenebel gedrungen und ließ die Hänge bläulich leuchten. »Ich gehe zu Vater zurück.« Sie senkte den Kopf wie nach einem Schuldspruch. »Es wäre so schön gewesen mit uns.«
»Was redest du da für eine Dummheit?« sagte er grober, als er es wollte.
»Du fährst heute abend zurück nach Heidfeld, nicht wahr? Johannes will ja Weihnachten zu Hause sein. Ich bleibe hier.«
»Selbstverständlich bleibe ich auch.
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