Geliebter Boss
Gondel.«
»Wie spät ist es?«
»Sechs Uhr.«
Zanders küßt sie zärtlich auf die Nasenspitze.
»Das ist die einzige Stelle, die ich noch nicht geküßt habe«, sagt er verliebt. »Hast du mir jetzt alles gesagt, was zu sagen war?«
»Ich habe doch die ganze Zeit kein Wort gesprochen?«
»Auch ohne Worte — in der Liebe gilt ein anderes Alphabet.«
Als sie hinunterkommen, halten vor der Anlegestelle des
Hotels drei Gondeln. Sie sind anderen Sterblichen nicht zugänglich, nur für die Gäste des Hotels bestimmt. Luxusgondeln, aus schwarzem Holz, mit rotem Samt ausgeschlagen, und ihre Gondolieri sehen aus wie junge Heldentenöre der Pariser Oper. Sie können sogar singen, vielleicht nicht ganz so gut und partiturgerecht, aber dafür mit mehr Herz und Timbre, und was ihren Erfolg bei Frauen betrifft... doch was gehen uns im Augenblick die Gondolieri an?
Sagt das nicht! Wenn man Birke betrachtet...
»Wenn du dich doch nicht so oft nach ihm umsehen würdest!«
»Du vergißt den Spiegel! Wenn ich mir die Nase pudere, lacht mir der freche Kerl im Spiegel zu.«
»Du puderst dir sehr oft die Nase.«
»Eifersüchtig?« fragt Birke und lacht.
»Halte ich den Vergleich mit ihm aus?«
»Hundertfach!«
Da küßt er sie, und der Gondoliere beginnt sofort ein Lied zu singen. Das bedeutet für seine Kollegen, daß er das Große Los gezogen hat, daß er ein Liebespaar fährt. Er biegt sofort in einen der schmalen Kanäle ein, wo von den Gärten die Zweige tief über das Wasser hängen. Langsam läßt er die Gondel weitergleiten, und sie fahren an den alten Palästen vorüber, unter malerischen Brücken hindurch, auf denen Menschen stehen und ihnen zuwinken, vorbei an dicken alten Eichenpfählen, die vor Jahrhunderten vor den Häusern ins Wasser gerammt wurden. Sie biegen in den Canal Grande ein, der Blick weitet sich, sie fahren am Fischmarkt vorbei, unter der Ponte di Rialto hindurch, unweit der danebenstehenden ältesten Kirche Venedigs, San Giacomo; am Cà d’Oro vorüber, an dem Palazzo Rezzoni , an den Kirchen Santa Maria della Salute und an Santa Maria Formosa, der Kirche zur Schönen Heiligen Maria. Sie biegen vom Canal Grande nach links ab in einen der vierhundert engen Kanäle, an deren Kreuzungen der Gondoliere seinen Ruf warnend ertönen läßt, um Zusammenstöße zu vermeiden. Die Dämmerung liegt über dem Wasser. Man blickt in die Fenster der nahen Paläste, in die glitzernden venezianischen Lüster, die aus hundert Kerzen ihr Licht im Wasser widerspiegeln, fährt an den schmalen privaten Anlegeplätzen der Häuser vorbei, die ihre Tore weit geöffnet haben, um die Fremden zum Eintreten und Kaufen zu verlocken. Sie gleiten weiter, unter einer gebogenen Brücke hindurch, eine schmale, nach oben geschlossene Brücke zwischen dunklen Häuserwänden.
»Die Seufzerbrücke!« sagt Zanders.
»Seufzten die jungen Mädchen nach ihrem Geliebten?«
»Nein. Die Verurteilten. Sie kamen nach ihrem Richtspruch rechts aus dem Gericht und gingen über die Brücke in die Bleikammern Venedigs.«
»Werden wir über eine solche Brücke gehen?«
»Niemals!«
»Du glaubst an unser Glück?«
»Du bist das Glück. An dich glaube ich.«
Bei den Haltestellen an der Mole Riva degli Schiavoni , neben dem bronzenen Reiterstandbild Viktor Emanuels II., steigen sie aus. Sie gehen die Uferstraße nach links zur Piazzetta hinüber, unter dem geflügelten Markuslöwen am Campanile vorbei, und stehen plötzlich im Lichterglanz des hellerleuchteten Markusplatzes, dem schönsten Platz der Welt. In der Mitte des Platzes spielt eine Militärkapelle von vierzig Mann, der helle Trompetenklang bricht sich an den Wänden der Häuser. Dicht drängen sich die Menschen, flanieren auf und ab, stehen vor den Auslagen der Juweliere und vor den Geschäften, in denen kostbare Spitzen bis weit nach Mitternacht feilgeboten werden. Die zwei berühmten Cafes an den beiden Längsseiten des Platzes liegen sich gegenüber, ihre kleinen Tische sind dicht besetzt, man löffelt Eis, schlürft Campari, in den Türen stehen die Musiker, die jetzt ihre Pause haben — ein goldener Platz, der im Licht der tausend Kerzen liegt, von den fünf goldenen Kuppeln der Markuskirche überstrahlt, ein goldener Traum; fast unwirklich, wie über dem Hauptportal die vier antiken Rosse aus vergoldeter Bronze hervorsprengen, die 1204 nach der Eroberung Konstantinopels als Beute nach Venedig gebracht worden sind.
»Darf denn etwas so schön sein?« fragt Birke
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