Geliebter Fremder
wie Rachel gesagt hatte: Die Fakten sind nicht absolut. Man konnte endlos über sie diskutieren. Aber auch diese Fakten mussten bedacht werden. Der Mann unten … wer auch immer er war … er war gut für sie gewesen. Er hatte sie glücklich gemacht. Er hatte sich um Johnny und Rachel und überhaupt um jeden auf dem Besitz gekümmert. Ganz gleich, was er in der Vergangenheit getan hatte, Lara wusste, dass er ein guter Mann war. Und sie liebte ihn von ganzem Herzen.
»Aber … wie kann ich einen Mann lieben, den ich gar nicht wirklich kenne?«, fragte sie, wobei sie mehr mit sich selbst als mit Sophie redete. »Und wie kann ich darauf vertrauen, dass er mich liebt? Er ist ein Chamäleon, genau wie Captain Tyler gesagt hat. Ich bin nicht davon überzeugt, dass er überhaupt zur Aufrichtigkeit fähig ist. Er wird immer auf der Hut sein und niemals zulassen, dass jemand erkennt, wer er wirklich ist.«
»Eine verirrte Seele«, sagte die Witwe lächelnd. »Nun, das ist doch deine Stärke, oder nicht?«
Kapitel 20
Da sie wusste, dass Captain Tyler nach London beordert war, um seine Aussage zu machen, hatte Lara bereits früh am Morgen nach ihm geschickt. Zu ihrer großen Erleichterung kam er sogleich in das Stadthaus am Park Place. Er trug Uniform, eine kurze rote Jacke mit dicken Goldschnüren, strahlend weiße Hosen und glänzende schwarze Stiefel, einen Umhang und einen Hut mit Feder, den er unter dem Arm hielt.
»Lady Hawksworth«, sagte er ehrerbietig, als er in den Salon trat und sich über ihre Hand beugte.
»Ich danke Ihnen, dass Sie so rasch gekommen sind«, sagte sie.
»Ich hoffe nur, ich kann Ihnen zu Diensten sein, Mylady.«
»Ich auch«, erwiderte Lara ernst. Sie setzte sich auf einen bequemen Samtsessel und auf ihre Aufforderung hin nahm der Captain ebenfalls Platz. »Sie sind in London, um vor dem Lordkanzler Ihre Aussage zu machen«, sagte sie.
»Ja, Mylady.« Sein sauber gestutzter schwarzer Schnurrbart zuckte imbehaglich. »Darf ich mich nochmals dafür entschuldigen, dass ich Ihnen die Wahrheit so lange vorenthalten habe und dass ich Ihnen bei unserer letzten Begegnung solchen Kummer bereitet habe? Ich werde mein Handeln in dieser Angelegenheit immer bedauern und ich hoffe, dass Sie mir eines Tages mein unverzeihliches Schweigen vergeben werden …«
»Es gibt nichts zu bedauern oder zu verzeihen«, versicherte sie ihm aufrichtig. »Ich verstehe Ihr Schweigen bezüglich Lord Hawksworth und in gewisser Weise bin ich sogar dankbar dafür. Eigentlich …« Sie holte tief Luft und blickte ihn direkt an, als sie fortfuhr: »Ich wollte sie heute Morgen sehen, um Sie darum zu bitten, dass Sie auch weiterhin schweigen werden.«
Er verzog keine Miene, nur ein leichtes Flackern trat in seine dunklen Augen. »Ich verstehe«, sagte er langsam.
»Sie bitten mich, heute vor dem Lordkanzler eine falsche Aussage zu machen. Sie möchten, dass ich leugne, den Mann zu kennen, der sich als Lord Hawksworth ausgibt.«
»Ja«, erwiderte sie schlicht.
»Darf ich fragen, warum?«
»Nach langem Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es für die Crosslands und auch für mich das Beste ist, wenn dieser Mann weiterhin der Familie vorsteht.«
»Mylady, ich habe Ihnen vielleicht den Charakter dieses Mannes nicht eindringlich genug geschildert …«
»Ich bin mir über seinen Charakter vollkommen im Klaren.«
Seufzend rieb Captain Tyler mit dem Daumen über die dicken Goldschnüre auf seinem Ärmel. »Ich möchte Ihrer Bitte gerne nachkommen, da ich damit eine Schuld einlösen kann, die ich schon lange bezahlen wollte. Doch … ihm zu erlauben, eine so mächtige und verantwortliche Stellung einzunehmen … zuzulassen, dass er das Leben eines anderen Mannes stiehlt … es kommt mir nicht richtig vor.«
»Was schulden Sie ihm?«, fragte Lara neugierig.
Steif erwiderte er: »Er hat mir das Leben gerettet. Wir – die Krone, meine ich – gründeten neue Städte am Ganges und bei Kanpur gab es Probleme. Rebellen lauerten an der Straße, griffen Reisende an und brachten sie gnadenlos um. Selbst Frauen und Kinder wurden nicht verschont. Als sie merkten, dass sie uns nicht vertreiben konnten, wurden die Teufel noch aggressiver. Viele Männer aus meiner Kompanie wurden gejagt und abgeschlachtet, manche in ihren eigenen Betten. Ich selbst wurde eines Nachts angegriffen, als ich von einem Besuch in Kalkutta zurückkehrte. Plötzlich war ich umringt von einem halben Dutzend Rebellen, die einen jungen
Weitere Kostenlose Bücher