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Geliebter Fremder

Geliebter Fremder

Titel: Geliebter Fremder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
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Kleidung und Essen doch immer so knapp sind.«
    »Bücher sind genauso notwenig wie Nahrung, finde ich.« Mrs. Chapman neigte den Kopf und sah sie neugierig an.
    »Haben Sie den neuen Jungen schon gesehen, Lady Hawksworth?«
    »Ein neuer Junge?«, wiederholte Lara verblüfft. »Ich wusste gar nicht… Wie und wann …?«
    »Er ist gestern Abend angekommen, der arme kleine Kerl.«
    »Wer hat ihn geschickt?«
    »Ich glaube, der Arzt vom Holbeach-Gefängnis. Er hat den Jungen hierher geschickt, weil sein Vater gehängt wurde. Wir sind uns nicht sicher, was wir mit ihm tun sollen. Wir haben kein einziges freies Bett.«
    »Sein Vater wurde gehängt?« Lara runzelte die Stirn. »Für welches Verbrechen?«
    »Über die Einzelheiten bin ich nicht informiert.« Mrs. Chapman senkte die Stimme. »Der Junge lebte bei ihm im Gefängnis. Offensichtlich gab es keinen anderen Ort, wo er bleiben konnte. Selbst das örtliche Armenhaus hat sich geweigert, ihn aufzunehmen.«
    Lara wurde übel, als sie die Neuigkeiten verdaute. Ein unschuldiges Kind mitten unter hartgesottenen Verbrechern.
    Wer konnte so etwas zulassen? »Wie alt ist der Junge?«, murmelte sie.
    »Anscheinend vier oder fünf, obwohl Kinder, die unter solchen Umständen aufwachsen, oft klein für ihr Alter sind.«
    »Ich muss ihn sehen.«
    Mrs. Chapman schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Vielleicht haben Sie ja mehr Glück als wir. Bis jetzt hat er noch mit keinem geredet. Als wir versucht haben, ihn zu baden, hat er sich heftig gewehrt.«
    »O Gott.« Erschrocken verabschiedete Lara sich von den Kindern des Botanikunterrichts und eilte zu dem alten Herrenhaus. Drinnen war es relativ still, weil die Kinder mit verschiedenen Aktivitäten beschäftigt waren. Die Köchin, Mrs. Davies, war gerade dabei, Wurzelgemüse zu schneiden und es in einen großen Kessel mit Lammeintopf zu werfen. Niemand schien zu wissen, wo der Junge war.
    »Er ist ein seltsames Geschöpf«, bemerkte Miss Thornton, die Schulleiterin, die aus einem Klassenzimmer auftauchte, als sie merkte, dass Lara da war. »Es ist unmöglich, ihm nahe zu kommen. Ich weiß nur, dass er sich lieber drinnen aufhält. Er scheint Angst davor zu haben, nach draußen zu gehen. Ganz ungewöhnlich für ein Kind.«
    »Haben wir überhaupt keinen Platz mehr für ihn?«, fragte Lara besorgt.
    Miss Thornton schüttelte den Kopf. »Er musste die Nacht auf einem Behelfsbett in einem der Klassenräume verbringen und ich bezweifle, dass er überhaupt geschlafen hat. Nachdem er im Gefängnis gelebt hat, überrascht mich das nicht.« Sie seufzte. »Wir müssen ihn anderswohin schicken. Die Frage ist nur, wer ihn nehmen wird?«
    »Ich weiß nicht«, erwiderte Lara bekümmert. »Ich muss darüber nachdenken. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich nach ihm suche?«
    Miss Thornton betrachtete sie zweifelnd. »Soll ich Sie begleiten, Lady Hawksworth?«
    »Nein, bitte, lassen Sie sich nicht von Ihren Pflichten abhalten. Ich werde ihn schon finden.«
    »Ja, Lady Hawksworth«, erwiderte die Schulleiterin sichtlich erleichtert.
    Lara durchsuchte methodisch jedes Zimmer im Haus. Sie vermutete, dass der Junge sich in irgendeine stille Ecke verkrochen hatte, um den lärmenden Kindern zu entkommen.
    Schließlich fand sie ihn in der Ecke eines umgebauten Salons, zusammengekauert unter einem Schreibtisch, als ob er dort Schutz finden würde. Als sie das Zimmer betrat, rollte er sich noch mehr zusammen. Schweigend umfasste er seine knochigen Knie und beobachtete sie. Ein kleines Lumpenbündel mit langen schwarzen Haaren.
    »Da bist du ja«, sagte Lara leise und kniete sich vor ihn hin. »Du kommst mir ein bisschen verloren vor, mein Lieber. Willst du dich nicht zu mir setzen?«
    Er zog sich zurück und starrte sie aus seinen großen blauen Augen misstrauisch an.
    »Willst du mir deinen Namen sagen?« Lara setzte sich hin und lächelte ihn an, während er wie erstarrt da hockte.
    Sie hatte noch nie Kinderaugen gesehen, die so voller Angst und Misstrauen waren. Als sie merkte, dass er eine Hand in die Tasche gesteckt hatte und dort offenbar schützend etwas umklammert hielt, lächelte sie ihn fragend an.
    »Was hast du da?«, fragte sie, wobei sie vermutete, dass es ein Spielzeug war, ein kleiner Ball oder sonst etwas, was Jungen seines Alters gern hatten.
    Langsam zog er einen winzigen, pelzigen grauen Körper heraus – eine lebendige Maus, die sie über die Finger des Jungen hinweg mit wachen Knopfaugen ansah.
    Lara unterdrückte ein

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