Geliebter Fremder
Nackt und zerbrechlich stand er davor und sagte eigensinnig: »Ich will nicht.«
»Aber du musst«, erwiderte Lara, die sich bemühte, ein Lachen zu unterdrücken. »Du bist sehr schmutzig.«
»Mein Pa sagt, wenn man badet, darin stirbt man.«
»Dein Vater hatte Unrecht«, sagte Lara. »Ich bade immerzu und es ist ein schönes Gefühl, sauber zu sein. Steig in die Wanne, solange das Wasser noch warm ist, Johnny.«
»Nein«, erwiderte er eigensinnig.
»Du musst baden«, beharrte Lara. »Alle, die auf Hawksworth Hall wohnen, müssen regelmäßig baden, nicht wahr, Naomi?«
Die Zofe nickte nachdrücklich.
Nach zahlreichen Schmeichel- und Überredungsversuchen hoben sie ihn schließlich in die Wanne. Das Kind saß ganz starr und gerade und man sah jeden einzelnen Wirbel auf seinem Rücken. Lara summte ein Lied, um ihn abzulenken, während sie ihn von Kopf bis Fuß wuschen. Nachdem sie ihn wiederholt abgespült hatten, war das Wasser ganz grau.
»Seht Euch mal diese Matte an«, meinte Naomi und zog eine der nassen verfilzten Haarsträhnen durch die Finger.
»Wir werden sie herausschneiden müssen.«
»Wie hellhäutig er ist«, sagte Lara mit einem Blick auf seine weiße Haut. »Du bist so weiß wie eine Schneeflocke, Johnny.«
Er betrachtete interessiert seine spindeldürren Ärmchen und seine Brust. »Da ist viel Haut abgegangen«, stellte er fest.
»Nein, keine Haut«, erwiderte Lara lachend, »nur Schmutz.«
Ihren Anweisungen gehorchend, stand er auf und ließ sich von Lara aus der Badewanne heben. Sie wickelte ihn in ein dickes Handtuch und trocknete ihn ab. Währenddessen drückte sich Johnny dicht an sie und versuchte, den Kopf auf ihre Schulter zu legen, wobei er das Mieder ihres Kleides völlig durchnässte.
Lara umarmte ihn. »Das hast du gut gemacht, Johnny«, sagte sie. »Du warst sehr artig im Bad.«
»Was soll ich hiermit machen, Mylady?«, fragte Naomi und wies auf den kleinen Haufen schmutziger Kleidungsstücke auf dem Fußboden. »Ich glaube, sie fallen auseinander, wenn ich versuche, sie zu waschen.«
»Verbrenn sie«, erwiderte Lara. Sie griff nach einem sauberen Hemd und einer Drillichhose, die sie von einem der Stalljungen ausgeliehen hatte. Die Kleider waren viel zu groß, aber das Einzige, was auf die Schnelle aufzutreiben gewesen war. »Für den Moment reicht es aus«, kommentierte Lara und schnallte dem Jungen ein zweckentfremdetes Hundehalsband um die Taille, damit die Hose nicht hinunterrutschte. Sie kitzelte ihn an den bloßen Zehen und er sprang mit einem überraschten Lachen zurück. »Wir lassen dir ein paar Schuhe machen und ein paar richtige Kleider. Eigentlich …« Sie runzelte die Stirn, weil ihr plötzlich einfiel, dass sie für diese Woche die Schneiderin bestellt hatte. Du lieber Himmel, das war doch heute gewesen, oder?«
»Na, es gelingt dir doch immer wieder, mich zu überraschen«, erklang die Stimme ihrer Schwester von der Tür.
Lara blickte lächelnd auf, als sie Rachel sah. »Oh, meine Liebe, ich hatte ganz vergessen, dass ich dich herbestellt hatte, um mir bei der Auswahl von Kleiderstoffen zu helfen. Habe ich dich etwa warten lassen?«
Rachel schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Mach dir keine Gedanken, ich bin ein bisschen zu früh. Die Schneiderin ist noch nicht da.«
»Gott sei Dank.« Lara schob sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. »Normalerweise bin ich nicht so vergesslich, aber ich hatte zu tun.«
»Das sehe ich.« Rachel trat näher und lächelte dem kleinen Jungen mit dem verfilzten Haarschopf zu. Johnny erwiderte ihren Blick mit schweigendem Misstrauen.
Lara bezweifelte, dass das Kind jemals eine Frau wie Rachel gesehen hatte, zumindest nicht aus der Nähe. Rachel sah heute besonders reizend aus. Ihre schwärzen Haare ringelten sich in glänzenden Löckchen, die hochgesteckt waren und ihren Schwanenhals betonten. Sie trug ein cremefarbenes Musselinkleid, das über und über mit winzigen Rosenknospen und Blättern bestickt war, und einen Strohhut mit rosafarbenem Band und Rosen. Stolz lächelnd überlegte Lara, ob es wohl noch eine andere Frau in England gab, die ihrer Schwester an Schönheit gleichkam.
»Larissa, du bist wirklich einzigartig!«, rief Rachel lachend aus. »Man sieht, dass du bei den Kindern im Waisenhaus warst. Bist du noch dieselbe, die früher immer so sehr auf ihre Erscheinung bedacht war?«
Schuldbewusst blickte Lara an ihrem feuchten, dunklen Kleid herunter und versuchte vergeblich, eine heraushängende Strähne
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