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Geliebter Fremder

Geliebter Fremder

Titel: Geliebter Fremder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
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ohne sich jetzt auch noch um ein wild gewordenes Kind kümmern zu müssen.«
    »Es ist schon in Ordnung. Ich …« Laras Stimme versagte, als sie sah, wie der Junge aus dem Zimmer gezogen werden sollte. Eine der Lehrerinnen schimpfte leise auf ihn ein, während sie ihn am Arm packte, um ihn am Fortlaufen zu hindern.
    »Wir kümmern uns schon um ihn«, sagte Miss Thornton zu Lara. »Es wird ihm gut gehen.«
    »Nein!«, heulte der Kleine wieder.
    Inmitten des Tumults krabbelte auf einmal die Maus aus der Tasche des Kindes und hüpfte auf den Boden. Als die Lehrerinnen das Tier auf dem blanken Parkett entlang huschen sahen, kreischten sie einstimmig auf und ließen den Jungen los.
    »Mousie!«, schrie er, kniete sich hin und krabbelte dem Tierchen nach. »Mousie, komm zurück!«
    Die Maus huschte in ein Loch in der Fußleiste und war verschwunden. Wie gelähmt starrte der kleine Junge auf das winzige Loch und begann bitterlich zu weinen.
    Als Lara den tränenüberströmten Jungen, die erschreckte Lehrerin und Miss Thorntons angespanntes Gesicht sah, handelte sie impulsiv. »Lassen Sie mich den Jungen nehmen«, sagte sie. »Ich … ich will ihn haben.«
    »Lady Hawksworth?«, fragte Miss Thornton vorsichtig, als habe Lara den Verstand verloren.
    Lara fuhr rasch fort: »Ich nehme ihn fürs Erste mit. Ich werde schon einen Platz für ihn finden.«
    »Aber Sie meinen doch sicher nicht…«
    »Doch.«
    Der Junge lief zurück in die sichere Geborgenheit von Laras Röcken. »Ich will Mousie«, schniefte er.
    Sie legte ihm die Hand auf den Rücken. »Mousie muss hier bleiben«, sagte sie ruhig. »Es wird ihr bestimmt gut gehen, das verspreche ich dir. Willst du auch hier bleiben oder möchtest du lieber mit mir kommen?«
    Statt einer Antwort ergriff er ihre Hand.
    Lara blickte die Schulleiterin lächelnd an. »Ich passe schon gut auf ihn auf, Miss Thornton.«
    »Oh, daran zweifle ich nicht«, antwortete die Schulleiterin. »Ich hoffe nur, dass er Ihnen nicht zu sehr zur Last fällt, Mylady.« Sie beugte sich hinunter und sah streng in das gerötete Gesicht des Jungen. »Ich hoffe, du weißt, was für ein Glück du gehabt hast, junger Herr Cannon. Wenn ich du wäre, würde ich mich sehr, sehr anstrengen, um Lady Hawksworth zu gefallen.«
    »Cannon?«, fragte Lara. »Ist das sein Name?«
    »Der Familienname, ja. Aber er wollte uns bisher nicht sagen, wie sein Vorname ist.«
    Eine kleine Hand zog an Laras und der Junge sah sie aus seinen hellblauen Augen an. »Johnny«, sagte er laut und deutlich.
    »Johnny«, wiederholte Lara und drückte leicht seine Hand.
    »Lady Hawksworth«, warnte die Schulleiterin sie, »meiner Erfahrung nach ist es besser, um ein Kind in einer solchen Situation nicht zu viel Aufhebens zu machen, sonst gewöhnt es sich daran. Ich weiß, es klingt grausam, aber die Welt draußen ist nicht nett zu mittellosen Waisen – besser, er kennt seinen Platz von vornherein.«
    »Ich verstehe«, erwiderte Lara und ihr Lächeln erstarb. »Danke, Miss Thornton.«
    Die Dienstboten von Hawksworth Hall waren fassungslos über den Anblick von Laras zerlumptem kleinen Gast, der ihren Rock nicht losließ. Die prächtige Umgebung schien ihn völlig unberührt zu lassen, er wandte kein Auge von Lara.
    »Johnny ist ziemlich schüchtern«, murmelte Lara ihrer persönlichen Zofe, Naomi, zu, als das Kind überhaupt nicht auf deren Annährungsversuche einging.
    »Er braucht bestimmt eine Weile, bis er sich an uns alle gewöhnt hat.«
    Naomi musterte den Jungen zweifelnd. »Er sieht so aus, als ob er im Wald gelebt hätte, Mylady.«
    Lara schwieg und dachte, dass der Wald sicher ein besserer Ort gewesen wäre als die verseuchte und gefährliche Umgebung, in der Johnny aufgewachsen war. Sie fuhr dem Jungen durch die verfilzten Haare. »Naomi, ich möchte, dass du mir hilfst, ihn zu waschen.«
    »Ja, Mylady«, murmelte die Zofe, sichtlich angewidert von der Aussicht auf diese Aufgabe.
    Während Laras persönliche Badewanne von zahlreichen Hausmädchen gefüllt wurde, die mit Eimern Wasser treppauf und treppab liefen, ließ sie Johnny einen Teller mit Ingwerkeksen und ein Glas Milch bringen. Das Kind verschlang alles bis auf den letzten Tropfen und Krümel, als habe es seit Tagen nichts gegessen. Als es gesättigt war, nahmen Naomi und Lara es mit ins Ankleidezimmer und zogen ihm die zerlumpten Kleider aus.
    Schwierig wurde es, als sie Johnny überreden wollten, in die Wanne zu steigen, die er mit äußerstem Misstrauen betrachtete.

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