Geliebter Fremder
ihrer glatten Haare festzustecken. »Den Kindern ist es egal, wie ich aussehe«, erwiderte sie lächelnd. »Und das allein zählt für mich.« Sie setzte den Jungen auf einen Hocker und legte ihm ein Handtuch um die Schultern. »Sitz still, Johnny, während ich dir die Haare schneide.«
»Nein!«
»Doch«, erwiderte Lara bestimmt. »Und wenn du artig bist, lasse ich dir eine Kappe schneidern, mit Messingknöpfen vorne. Wäre das nicht schön?«
»Na gut.« Resigniert setzte sich das Kind.
Lara begann, vorsichtig an seinen Haaren herumzuschnipseln. Sie kam nur langsam vorwärts, da sie ständig Johnny trösten musste, der bei jedem Schnipsen der Schere zusammenzuckte.
»Oh, lass mich das machen«, sagte Rachel nach ein paar Minuten. »Ich habe das immer schon besser gekonnt, Lara. Erinnerst du dich noch, dass Papa sich nur von mir die Haare hat schneiden lassen, bevor sie ihm alle ausgefallen sind?«
Lara lachte und überließ das Kind Rachels erfahrenen Händen. Große Büschel verfilzter Haarsträhnen fielen zu Boden. »Es ist wunderschön«, murmelte Rachel und ordnete die Haare sorgfältig auf dem Kopf des Jungen.
»Schwarz wie Tinte und ein wenig lockig. Er ist ein hübscher Junge, was? Halt still, mein Lieber – ich bin gleich fertig.«
Ihre Schwester hatte Recht, stellte Lara überrascht fest. Johnny war tatsächlich hübsch, mit klaren Gesichtszügen, einer geraden Nase, glänzenden schwarzen Haaren und hellblauen Augen. Er versuchte, Laras Lächeln zu erwidern, während er gerade auf seinem Hocker saß, aber sein Mund verzog sich zu einem Gähnen, das er nicht unterdrücken konnte, und er schwankte leicht.
»Kerlchen!«, rief Rachel aus. »Du darfst dich nicht bewegen, ich hätte dir fast die Ohrspitze abgeschnitten!«
»Er ist müde«, sagte Lara, nahm das Handtuch weg und zog den Jungen vom Hocker. »Für heute ist es genug, Rachel.« Sie trug Johnny zu dem Mahagonisofa mit der weichen Samtpolsterung. »Danke, Naomi, dass du mir geholfen hast. Du kannst jetzt gehen.«
»Ja, Mylady«, sagte die Zofe, knickste und ging aus dem Zimmer.
Das Kind kuschelte sich an Lara. Es fühlte sich seltsam vertraut an, den kleinen Körper zu spüren und seinen Kopf in der Armbeuge zu halten. »Schlaf jetzt, Johnny.« Sie strich über seinen Kopf und spürte das seidige dunkle Haar unter ihren Fingerspitzen. »Ich bin hier, wenn du aufwachst.«
»Versprochen?«
»O ja.«
Diese Versicherung war anscheinend alles, was er brauchte. Er drückte sich fester an sie und sein Körper wurde schlaff, bis er fest und gleichmäßig atmete.
Rachel setzte sich in einen Sessel und sah Lara verwundert an. »Wer ist das, Larissa? Warum hast du ihn hierher gebracht?«
»Er ist Waise«, erwiderte Lara, die Hand auf dem Rücken des Jungen. »Es gibt nirgendwo einen Platz für ihn. Er ist aus dem Holbeach-Gefängnis, wo sein Vater gehängt wurde, ins hiesige Waisenhaus geschickt worden.«
»Der Sohn eines verurteilten Verbrechers!«, rief Rachel so laut aus, dass der Junge sich im Schlaf unruhig bewegte.
»Schscht, Rachel«, erwiderte Lara und runzelte vorwurfsvoll die Stirn. »Er kann nichts dafür.« Sie beugte sich schützend über das Kind und streichelte so lange über seinen Rücken, bis es sich wieder entspannte.
Rachel schüttelte erstaunt den Kopf. »Selbst wenn ich bedenke, wie du normalerweise mit Kindern umgehst, hätte ich das nicht erwartet. Ihn tatsächlich mit hierher nehmen – was wird Lord Hunter dazu sagen?«
»Ich weiß nicht. Hunter wird es bestimmt nicht billigen, aber an dem Jungen ist etwas, das mich dazu drängt, ihn zu beschützen.«
»Lara, das empfindest du bei jedem Kind, dem du begegnest.«
»Ja, aber dieses hier ist etwas Besonderes.« Verlegen und nach Worten ringend versuchte Lara das Gefühl zu erklären. »Als ich ihn zum ersten Mal sah, hatte er eine Maus in der Tasche. Er hatte sie aus dem Gefängnis mitgebracht.«
»Eine Maus«, wiederholte Rachel und schüttelte sich. »Tot oder lebendig?«
»Äußerst lebendig«, erwiderte Lara. »Johnny hat für sie gesorgt. Ist das nicht bemerkenswert? Er lebt im Gefängnis und ist Schrecken ausgesetzt, die du und ich uns nicht einmal vorstellen können … und er findet ein kleines Geschöpf, das er lieben und versorgen kann.«
Rachel schüttelte lächelnd den Kopf. »Darin besteht also die Anziehung. Ihr habt beide die Angewohnheit, Streuner aufzusammeln. Ihr seid verwandte Seelen.«
Zärtlich blickte Lara auf das schlafende Kind. Er
Weitere Kostenlose Bücher