Geliebter Fremder
vermied es jedoch, sie anzusehen, sondern starrte wie gebannt auf die Speisen. Er holte tief Luft. »Lara … wegen gestern Nacht, ich weiß nicht mehr genau, was ich …«
Er umklammerte die Kante der Anrichte, bis seine Knöchel weiß hervortraten. »Ich hoffe … ich habe dir nicht wehgetan … oder?«
Lara blinzelte erstaunt. Er dachte, er hätte sie vergewaltigt. Was sollte er auch sonst annehmen, nachdem er heute früh halb ausgezogen aufgewacht war? Aber warum bekümmerte es ihn jetzt, wo er es doch früher so oft getan hatte? Sie warf ihm einen raschen Blick zu. Er schien unter der Last seiner Schuldgefühle fast zusammenzubrechen.
Welch eine Ironie, dass gerade Hunter, der sich niemals schlecht gefühlt hatte, als er ihr tatsächlich wehgetan hatte, ein solches Schuldbewusstsein empfand wegen etwas, das er gar nicht getan hatte. Auf einmal kam ihr die ganze Situation unglaublich komisch vor und sie wandte sich ab, um ihr Gesicht zu verbergen.
»Du warst sehr betrunken«, sagte sie und bemühte sich, würdevoll zu klingen. »Wahrscheinlich wusstest du gar nicht, was du tatest.«
Sie hörte ihn leise fluchen und ihre Schultern zuckten vor unterdrücktem Lachen.
»Um Gottes willen, weine nicht«, sagte Hunter unsicher. »Lara, bitte … du musst mir glauben, dass ich nicht…«
Lara drehte sich zu ihm um und er starrte sie verständnislos an, als er ihre Belustigung sah. »Du hast gar nicht …«, prustete sie. »Du bist … vorher eingeschlafen …« Vor lauter Lachen bekam sie Schluckauf und wandte sich wieder ab.
»Du kleiner Teufel«, explodierte Hunter und folgte ihr durch das Zimmer. Erleichterung und Wut zugleich kämpften in ihm. »Ich bin heute früh durch die Hölle gegangen.«
»Gut«, erwiderte sie äußerst befriedigt und rettete sich hinter den Tisch. »Das hast du verdient, nachdem du mich gezwungen hast, dieses schreckliche Negligee zu tragen.«
Hunter versuchte, mit ein paar schnellen Schritten bei ihr zu sein, aber sie entkam, indem sie sich hinter einen Stuhl stellte.
»Es tut mir nicht Leid, dass ich dich das Negligee habe tragen lassen – nur dass ich mich kaum noch erinnern kann, wie du darin ausgesehen hast. Du wirst es noch einmal für mich anziehen müssen.«
»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun!«
»Aber es zählt nicht, wenn ich mich nicht erinnere.«
»Ich erinnere mich dafür umso besser. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so gedemütigt worden.«
Hunter gab die Jagd auf, stützte sich auf den lisch und sah sie aus seinen dunklen Augen finster an. »Du warst wunderschön. Daran erinnere ich mich noch.«
Sie bemühte sich, nicht entwaffnet und geschmeichelt zu sein, aber es fiel ihr schwer. Die Atmosphäre zwischen ihnen veränderte sich und wurde überraschend angenehm. Lara setzte sich wieder an den Tisch und Hunter betrachtete den von Krümeln übersäten Platz, an dem Johnny gesessen hatte. »Hast du dem Jungen gesagt, dass er von jetzt an bei uns wohnen wird?«, fragte er unvermittelt.
Sie lächelte leise. »Nicht mit so vielen Worten. Er scheint es für selbstverständlich zu halten.«
»Er hat verdammt viel Glück. Jedes andere Kind in seiner Lage wäre ins Armenhaus geschickt worden – oder noch schlimmer.«
Lara ergriff eine Gabel und spielte mit den Frühstücksresten auf ihrem Teller. »Mylord«, murmelte sie, »ich möchte noch etwas mit dir besprechen. Ich habe über Johnnys Schicksal nachgedacht, dass er mit seinem Vater im Gefängnis leben musste, weil ihn sonst niemand zu sich nehmen konnte … Ich bin sicher, er ist nicht das einzige Kind, dem so etwas widerfährt. Wenn es in Holbeach so Sitte ist, ist es in anderen Gefängnissen bestimmt genauso. Es leben wahrscheinlich viele Kinder mit ihren Eltern hinter Gittern und etwas Entsetzlicheres kann ich mir kaum vorstellen ,..«
»Warte.« Hunter nahm sich einen Stuhl, setzte sich ihr gegenüber und ergriff ihre Hände. Er umfasste ihre Finger mit seinen warmen Händen und sah sie direkt an. »Du bist eine mitfühlende Frau, Lara. Gott weiß, dass du nicht ruhen wirst, bevor du nicht jedes Waisenkind, jeden Bettler und jedes streunende Tier auf der Welt versorgt hast.
Aber fang bitte nicht jetzt sofort mit deinem Kreuzzug an.«
Verärgert entzog ihm Lara ihre Hände. »Davon habe ich doch gar nicht geredet«, sagte sie.
»Doch.«
»Ich möchte nur herausfinden, ob es noch andere Kinder gibt, die unter solchen Umständen leben, wie Johnny es musste. Ich habe überlegt, ob ich
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