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Geliebter Fremder

Geliebter Fremder

Titel: Geliebter Fremder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
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verlangsamte seine Schritte.
    Er blieb in der Eingangswölbung stehen und blickte hinter die Säulen, die die Wand säumten. Da saß der Junge zusammengekauert in einer Ecke auf dem Fußboden. Er weinte nicht, aber er schniefte, als wenn er nahe daran wäre, und seine Wangen waren gerötet. Er blickte zu Hunter auf und zupfte nervös an seinen geschorenen schwarzen Locken.
    »Warum sitzt du da?«, fragte Hunter irritiert. Er hatte keine Erfahrung mit Kindern und kannte ihre Bedürfnisse und Wünsche nicht.
    »Ich habe mich verlaufen«, sagte das Kind jämmerlich.
    »Warum ist denn keiner bei dir?« Jemand hätte auf den Jungen aufpassen müssen – er konnte ja in Gott weiß was für gefährliche Situationen geraten. Als er darauf keine Antwort bekam, fragte Hunter: »Wohin willst du denn?«
    Johnny zog die schmächtigen Schultern hoch. »Ich muss Pipi.«
    Hunters Mundwinkel zuckten in widerstrebendem Mitgefühl. »Kannst du das Klo nicht finden? Nun, ich bringe dich hin. Komm mit mir.«
    »Ich kann nicht laufen.«
    »Dann trage ich dich. Aber wehe, du lässt es einfach laufen, ich warne dich.« Hunter hob den Jungen hoch und ging den Flur entlang. Seine Last war überraschend leicht. Was für seltsame Augen der Junge hatte, von einem Blau, das fast schon wie Violett wirkte.
    »Bist du mit Mylady verheiratet?«, fragte Johnny und schlang die Arme um Hunters Hals.
    »Ja.«
    »Wenn ich groß bin, heirate ich sie.«
    »Sie kann nicht mit zwei Männern zugleich verheiratet sein«, erwiderte Hunter amüsiert. »Was willst du denn mit mir machen?«
    »Du kannst hier wohnen bleiben«, bot der Junge ihm großzügig an. »Wenn Mylady es will.«
    Hunter grinste in das kleine, ernste Gesicht. »Danke.«
    Johnny blickte hinunter, während sie den Flur entlang gingen. »Du bist groß«, bemerkte er. »Sogar größer als mein Papa.«
    Die Bemerkung erregte Hunters Interesse. »Sag mir, Kerlchen … warum wurde dein Vater denn gehängt?«
    »Papa war ein Dieb. Dann hat er jemanden umgebracht, aber es war ein Unfall.«
    Johnnys Vater war also wohl kaum ein Schwerverbrecher gewesen … nur einer der zahlreichen Kleinkriminellen, die Londons Unterwelt bevölkerten. Hunter verbarg seinen Abscheu und verlagerte das Gewicht des Jungen auf seinen anderen Arm. »Wo ist deine Mutter?«, fragte er.
    »Mama ist im Himmel.«
    Der Junge hatte also niemanden.
    Ein unschuldiges Lächeln glitt über Johnnys Züge, als ob er Hunters Gedanken erraten hätte. »Du und Mylady habt mich jetzt, nicht wahr?«
    In diesem Augenblick begann Hunter zu verstehen, warum Lara von dem Jungen so angezogen war. »Ja, ich habe dich jetzt«, antwortete er ohne die leiseste Spur von Sarkasmus. Nun, dem Jungen konnte nichts Besseres passieren, als bei anderen Menschen den Wunsch zu wecken, für ihn zu sorgen.
    Sie erreichten einen kleinen Raum mit einem Waschbecken, einer Toilette und einem riesigen Rohr und Hunter stellte seine Last vorsichtig ab. »Hier kannst du Pipi machen.« Er schwieg und fragte dann verlegen: »Brauchst du, ähem, Hilfe … oder so?«
    »Nein, ich kann das schon allein.« Der Junge trat in den Raum und sah sich besorgt um. »Bist du noch da, wenn ich wieder herauskomme?«
    »Ja, ich bleibe hier«, erwiderte Hunter und blickte auf die Tür, die sich hinter Johnny schloss. Gegen seinen Willen rührte ihn das Kind, das kleine hässliche Entlein, das unter Schwänen aufwachsen musste. Allerdings war Hunter selbst auch kein Schwan.
    Es würde nicht bequem sein, mit einem Kind zusammenzuleben, das ihn Tag für Tag an seine größte Schwäche erinnerte. Ein Hindu würde mit den Schultern zucken und sagen, dass es der Wille der Götter sei. Jeder Mann ist für seine eigene Rettung verantwortlich, hatte ihm ein weiser Mann einst beigebracht – für einen Christen eine Gotteslästerung, aber für Hunter hatte es einen Sinn ergeben. In manchen Fällen erfolgt die Rettung nur, wenn man mit der Gesellschaft bricht. Johnny würde zu der gleichen Schlussfolgerung kommen, wenn er in dieser Nische der Welt, die man England nannte, überleben wollte.
    Captain Tyler saß bequem in einem Ledersessel. Das Herrenzimmer wurde nur von einem kleinen Feuer im Kamin erhellt. Er umfasste mit beiden Händen ein Glas Brandy und ließ seine Handflächen von dem Alkohol wärmen. In langsamen Schlucken trank er davon, in der Art eines Mannes, der kleine Genüsse schätzt.
    Morland Manor, ein nicht sehr großes, aber gut erhaltenes Haus, lag wie ein prächtiger Vogel in

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