Geliebter Lord
Hamish zusammen sein. Er machte sie vergessen, dass er ein Patient war und sie eine Heilerin.
»Dann bis heute Abend«, verabschiedete er sich, am Fuß der Wendeltreppe angelangt.
Jetzt war der Moment gekommen, die Klugheit obsiegen zu lassen und eine Ausrede vorzubringen.
»Ja«, antwortete Mary in dem Wissen, dass das die schlimmstmögliche Antwort war.
Kapitel 9
D as Tablett wurde ihm wieder von seinem Bruder gebracht, der ihn nicht zu überreden versuchte, zum Abendessen hinunterzukommen. Brendan hatte mehr Einfühlungsvermögen als die meisten Menschen. Dabei wusste er gar nicht alles, und wenn es nach Hamish ging, würde es auch so bleiben. Manche Geheimnisse waren nur für Nächte mit Sturmgeheul oder Alpträumen gedacht.
Hamish sperrte die nachtdunkle Welt aus, indem er das Fenster mit den Klappläden verschloss, und zündete das Holz in dem Kohlenbecken an, das in der Ecke stand. Dann schob er die Kanone aus dem Weg und den Tisch in die Mitte des Zimmers, stellte zwei Stühle dazu und zündete Kerzen an. Während er das Spiel aufbaute, fragte er sich, ob sie wohl kommen würde oder so klug wäre, ihm fernzubleiben.
Er legte die rechte Hand auf die Brust und spürte durch den Stoff seines Hemdes das Bild, das ihm inzwischen so vertraut war. Er hatte zugesehen, wie sie es in ihn hineinschnitten, ohne zu zucken oder auf andere Weise Schmerzen erkennen zu lassen. Mary hatte nicht weggeschaut und weder Ekel noch Erschrecken erkennen lassen, und er hatte sie scharf beobachtet. Sie wirkte eher interessiert als abgestoßen, eher fasziniert als entsetzt.
Das Bild endete nicht in Hamishs Taille, sondern zog sich über seine Hinterbacken und die Schenkel nach unten. Sogar die Fußsohlen waren Ziel der Messer und Nadeln gewesen.
Eine einzigartige Folter und meisterhaft ausgeführt. Er empfand beinahe so etwas wie Bewunderung für den Ersinner seiner Qualen. Er hatte nicht erkannt, welcher aus der Gruppe seiner Schinder es war, keinen der Männer als Hauptschuldigen herauszupicken vermocht. Auch in dieser Hinsicht hatten sie sich als raffiniert erwiesen. Er konnte seinen Hass nicht auf eine bestimmte Person richten, sondern war gezwungen, den ganzen Haufen zu hassen, was schwieriger war als gedacht.
Die Nadeln waren mit einer schmerzhaften Mixtur präpariert, und ein einziger Zentimeter des eintätowierten »Werkes« erforderte tausend winzige Nadelstiche. Während er von Dorf zu Dorf geschleppt wurde, kam jeder einmal an die Reihe, durfte an ihm üben wie an einem leblosen Stück Fleisch. Darauf, das erkannte er schon früh, kam es ihnen an: ihn zu entmenschlichen. Und das gelang ihnen. Monatelang existierte er lediglich, war darauf reduziert zu wissen, dass er lebte, Hunger verspürte und Schmerzen litt.
Er ging zum Bett und zog die rote Überdecke mit der Goldstickerei glatt. Seine damit einhergehenden Erinnerungen waren schöner als die meisten anderen. Ein belebter Markt, ein betagter Händler, bei dem er die wunderschöne Seide kaufte und dann zu Brendans Schiff schickte, damit dieser sie nach Nova Scotia mitnähme. Sein Bruder hatte sie zusammen mit ein paar anderen Dingen sicher verwahrt, ohne zu ahnen, dass sie zu einem Überbleibsel eines früheren Lebens werden würden.
Konnte ein Mensch wiedergeboren werden? Konnte er zwei unterschiedliche Leben leben? Hamish hatte das Gefühl, nicht mehr der Mann zu sein, zu dem er herangewachsen war. Gewisse körperliche Merkmale waren zwar noch dieselben – beispielsweise die Augen- und Haarfarbe –, aber seine Stimme hatte einen völlig anderen Klang, war rauh und heiser, wenn er lange sprach. Das Resultat monatelangen Schreiens. Er war noch immer gleich groß, aber nach Monaten am Rand des Hungertods noch immer wesentlich schlanker als früher.
Die größten Veränderungen waren jedoch nicht gleich zu erkennen. Er hatte seine jugendliche Unbekümmertheit verloren und den Glauben, dass es immer ein Morgen geben würde. Heutzutage war Zeit ein kostbares Gut für ihn. Er beschäftigte sich in Gedanken nicht so sehr mit irgendwelchen Abenteuern oder seiner nächsten Reise, sondern vielmehr mit seinen Überzeugungen und der Frage, was er von sich selbst erwarten konnte.
Wie sein tätowierter Körper hatte sich auch sein Geist langsam verändert, und er war noch immer dabei, die neuen Gedankenmuster zu enträtseln.
Wieder fragte er sich, ob Mary kommen würde. Er sehnte sich nach der Gesellschaft eines Menschen, der ihn nicht kannte, wie er gewesen war, der
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