Geliebter Lord
Menschen, die bestimmte Ansichten haben und Begriffe wie Ehre und Würde hochhalten.«
»Wenn du es nicht herumerzählst, wird niemand erfahren, was hier vor sich geht. Ich lege Marys Ehre und Würde vertrauensvoll in deine Hände.«
»Und was ist mit
deiner
Ehre und Würde?«
Brendan sah ihn so eindringlich an, dass Hamish beinahe geantwortet hätte. Aber er könnte ihm nie erklären, was er wirklich empfand, oder ihm mit Worten vermitteln, was er durchgemacht hatte. Manchmal genügten Worte einfach nicht – manchmal musste ein Mensch eine Erfahrung selbst machen, um zu verstehen.
Ehre? Ehre war ein Kodex, der einem Mann vorschrieb, wie er sich in der Gesellschaft zu verhalten hatte. Würde? Auch eine bestimmte Verhaltensweise. Ein Mann nahm den Tee nicht splitternackt im Salon oder betrank sich in der Gesellschaft von Damen. Aber welche Bedeutung hatten die beiden Worte für einen Gefangenen? Seine Ehre hatte er verloren, als er das erste Mal vor Schmerzen schrie, und seine Würde war ihm genommen worden, als die Atavasi ihn so gut wie nackt von Dorf zu Dorf schleppten.
In jenen Monaten in Indien hatte er sich gesehen, wie er wirklich war, nicht, wie er sein wollte. Er hatte sich die Begriffe vergegenwärtigt, an die zu glauben er erzogen worden war, und erkannt, dass er sich weit von seiner Erziehung entfernt hatte. Zu guter Letzt hatte er sich die Schwäche seines Charakters eingestanden. Und die folgte nicht aus den Untaten anderer, sondern zeigte sich in seinem eigenen Verhalten.
Auch etwas, was er Brendan nicht offenbaren würde.
Mary bot ihm die Möglichkeit, sich von sich selbst abzulenken, und er würde sich diese Atempause nicht entgehen lassen. Vielleicht war es unklug von ihr gewesen zuzustimmen, so lange bei ihm zu bleiben, wie er sie von der Notwendigkeit ihrer Anwesenheit überzeugen könnte, aber er dankte dem Schicksal – oder was immer sie dazu bewogen hatte. Sie machte ihn seine Scham und sein Entsetzen vergessen, mit einem sanften Lächeln, mit ihrer Leidenschaft. Er würde sich nicht so nobel zeigen, sie fortzuschicken.
Brendans Miene verfinsterte sich zusehends, aber er sprach nichts von dem aus, was ihm offensichtlich auf der Seele lag. Hamish konnte sich nicht erinnern, seinen Bruder jemals so zurückhaltend erlebt zu haben. Brendan wandte sich zum Gehen. Auf der Schwelle blieb er stehen und blickte über die Schulter zurück.
»Indien hat dich tatsächlich verändert, Hamish. Du hattest es mir gesagt, aber ich wollte es nicht glauben. Ich redete mir ein, dass du deiner Verletzungen wegen so anders wärest – oder aus Heimweh. Ich begriff nicht, dass du nicht mehr der Mann bist, den ich all die Jahre kannte.«
»Du hättest mir glauben sollen«, sagte Hamish in sanftem Ton. »Ich würde dich nie anlügen.«
»Dann sag mir auch jetzt die Wahrheit: Wirst du Mary nicht schaden, wenn du sie hierbehältst?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie bleiben muss.«
Eine Stunde später kam Mary herein und stellte das Tablett aufatmend auf den Tisch neben der Tür. Da half alle Übung nichts – die Treppe bereitete ihr noch immer das gleiche Unbehagen.
Hamish, der am Fenster stand, drehte sich ihr zu. »Brendan verlässt gerade den Hof«, berichtete er. »Hester und Micah gehen ebenfalls.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich habe mich von ihnen verabschiedet.«
»Du willst mich nicht überreden, sie zurückzurufen?«
»Sollte ich?« Sie glaubte nicht, befürchten zu müssen, dass die beiden sie in Inverness anschwärzen würden. Obwohl Hester keinen Hehl aus ihrer Missbilligung gemacht und Micah es vermieden hatte, ihrem, Marys, Blick zu begegnen. Sie kannte die beiden erst ganz kurz, und es sollte sie nicht kümmern, was sie von ihr hielten, aber seltsamerweise tat es das doch.
Brendan hatte sie im Hof lediglich mit einem tadelnden Blick bedacht. Eine gute Übung für sie, falls doch jemand in Inverness zu Ohren kommen sollte, was sie hier machte.
Sinnend betrachtete sie Hamish. Sie kannte ihn noch nicht einmal so lange wie Hester und Micah, und doch setzte sie ihren Ruf aufs Spiel, um bei ihm bleiben zu können.
Er hatte sich wieder dem Fenster zugewandt. Plötzlich sagte er über die Schulter: »Sie sind erst auf der Brücke. Wenn du dich beeilst, kannst du sie noch einholen.«
Ihr Gewissen verhielt sich still.
»Ich weiß, dass ich es tun sollte«, erwiderte sie leise. »Wahrscheinlich warten schon Patienten auf mich.«
»Zweifellos«, bestätigte er
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