Geliebter Lord
Unbehagen beiseite und ging auf die Männer zu, die interessiert um sich blickten.
»Seid Ihr allein?«
Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Was wollt Ihr hier?«
»Seid Ihr Mary Gilly?«, wiederholte der Geschorene seine Frage.
»Ja, die bin ich.« Sie presste die verschränkten Hände auf ihren kribbelnden Magen.
»Wir sind gekommen, um Euch zu verhaften, Mary Gilly«, sagte der Geschorene, »wegen Mordes an Eurem Ehemann.«
Als Hamish zurückkam, rief er nach ihr, doch es blieb alles still. Irritiert hielt er im Burghof an und blickte um sich. Keine Mary. Er saß ab, ließ sein Pferd am Brunnen stehen und ging in die Küche.
Auch dort war sie nicht.
Als er wieder in den Hof hinaustrat, fiel ihm ein, wie verzaubert Mary von hier aus manchmal den Morgenhimmel betrachtete, als hätte sie ihn in Inverness nie gesehen. An klaren Tagen malte die aufgehende Sonne in allen erdenklichen Farben leuchtende Streifen auf die lichtblaue Leinwand über dem See, doch all die Schönheit verblasste gegen die von Mary.
Die Stille machte ihm Angst. Er ging zum Turm hinüber, stieg die Treppe hinauf und rief ihren Namen. »Mary!« Er verhallte ungehört.
Vielleicht saß sie ja in seinem Zimmer auf dem Bett und würde ihm schelmisch entgegenlächeln, wenn er einträte.
»Hast du mich vermisst?«, würde sie fragen, und er müsste sie eigentlich schütteln, weil sie ihm solche Sorgen bereitet hatte. Stattdessen würde er sie herzhaft küssen, als Belohung dafür, dass sie da war.
Aber sie
war
nicht da.
Er öffnete das Fenster, und der kalte Wind fegte vom See herein. Mary war nicht im Castle, und das Gemäuer erschien ihm so leer wie an dem Tag, als er aus dem Beiboot an Land gestiegen war mit dem Vorsatz, nichts zu tun, um sein Leben zu verkürzen oder zu verlängern, eine Vereinbarung, die er mit Gott getroffen hatte, als Strafe für seine Sünden.
Vielleicht war Mary unterwegs, um Blätter oder Kräuter oder Wurzeln für ihre Rezepturen zu sammeln, und hatte sich verirrt. Vielleicht hatte sie sich verletzt und wartete darauf, dass er sie fände.
Hamish lief in den Hof hinunter und stieg wieder auf sein Pferd.
Er suchte nach ihr, bis es dunkel wurde, rief immer wieder ihren Namen, ritt immer weiter, bis ihm klarwurde, dass sie so weit nicht gekommen sein konnte. Nach Einbruch der Nacht gönnte er seinem Pferd Erholung und stieg auf Marys um. Nach einigen Stunden kam er zurück und ging zu Fuß wieder los. Aber er fand sie nicht. Bei Tagesanbruch heimgekehrt, stieg er die Turmtreppe zu dem Zimmer hinauf, das sie sich am Tag ihrer Ankunft für die Dauer ihres Aufenthalts ausgesucht hatte, und bemerkte, dass ihr Arztkoffer und ihre Kleider nicht mehr da waren.
Hamish fiel ein, wie sie den Koffer einmal auf dem Tisch geöffnet und jedes Gefäß daraus ins Licht gehalten hatte.
»Was machst du?«
»Eine Bestandsaufnahme«, erklärte sie. »Auch die beste Heilerin vermag nichts ohne Arzneien.«
Er hatte eine der Phiolen in die Hand genommen. »Was ist das?«
»Kampferöl.«
Er las die Etiketten. »Das ist ja eine große Auswahl.«
»Der Grundstock für jeden guten Heiler.« Sie hob eine Phiole hoch, die eine feste, gelbliche Substanz enthielt. »Schweinefett mit Rosmarin und Distelkraut. Wirkt beruhigend bei Brustenge.«
Hamish deutete auf einen leeren Platz. »Eine Phiole fehlt.«
»Darin war mein Quecksilberdestillat, aber ich benutze es nicht mehr.«
Offenbar spürte sie seinen Blick, denn sie wandte sich ihm zu und beantwortete seine unausgesprochene Frage: »Ich habe meine Zweifel an seiner Wirksamkeit. Als ich es Gordon gegen seine Beschwerden verabreichte, verschlimmerten sie sich noch.«
»Du solltest dich mit meinem ältesten Bruder Alisdair unterhalten«, meinte er. »Er ist schon seit Jahren fasziniert von der chinesischen Medizin. Auf Gilmuir gibt es sogar eine Art Hausapotheke mit allen möglichen Mitteln, die er aus China eingeführt hat.«
Mary hatte ihn so verzaubert angesehen, als hätte er ihr alle Juwelen der Welt versprochen.
»Ich habe nie jemanden getroffen, der sich dafür interessierte«, sagte sie bedauernd, »und so blieb mir, um auf diesem Gebiet etwas zu lernen, nur Matthew Marshall.« Sie reichte ihm ein eselsohriges, offensichtlich vielgelesenes Buch.
Er blätterte es durch und las dann den Titel.
The Primitive Physick, a Practioner’s Guide to Commonsense Medicine.
»Mr. Marshall ist zwar Prediger, aber er kennt sich auch sehr gut in der Medizin aus. Ich verdanke seinem
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