Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
Lächeln an, das, wie ich hoffe, ermutigend wirkt. Er drückt mir einen kalten Kuss auf die Wange, nimmt meine Hand und zieht mich über die Straße. Claus’ Mutter bewohnt eine Eigentumswohnung im obersten Stockwerk eines modern wirkenden, im Moment komplett schneebedeckten Mehrfamilienhauses. Claus selbst hat nie hier gelebt. Irgendwie beruhigt mich der Gedanke, nicht in ein altes Haus voller jahrzehntealter Erinnerungen zu kommen.
Sie erwartet uns an der Wohnungstür. Lächelt mich an. Und umarmt mich.
Ich bin völlig perplex von dieser herzlichen Begrüßung – so werde ich normalerweise nur von Menschen begrüßt, die mich schon lange kennen und sich wirklich über meinen Besuch freuen. Ich beobachte sie heimlich, während sie auch Claus umarmt, meinen Mantel an der Garderobe aufhängt und aus der Küche eine Vase für die Blumen holt. Schlank, blond, apart sind die ersten Worte, die mir einfallen. Sie trägt Jeans, einen zart rosafarbenen Kaschmirpullover – zumindest sieht es nach Kaschmir aus –, einen passenden Lippenstift und flache Slipper.
So möchte ich in dem Alter auch mal aussehen, schießt es mir durch den Kopf.
Ich vergleiche sie mit meiner eigenen, blassen, teigig-dicklichen Mutter, die sich mit Vorliebe in Lodengrün und Wiener-Schnitzel-Braun kleidet. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich je zur Begrüßung umarmt hat.
»Ist es okay, wenn ich Kristin sage?«, fragt mich Claus’ Mutter gerade. »Ich bin übrigens Leni.«
Ich nicke, schon wieder völlig überrumpelt. Leni also. Thomas’ Eltern haben mir erst nach vier Jahren das Du angeboten, im Rahmen einer feierlichen Ansprache zu Weihnachten. Ich fand es sehr schwer, mich nach all den Jahren daran zu gewöhnen, verplapperte mich noch Wochen später und erntete dafür strenge Blicke unter hochgezogenen Augenbrauen von Herrn und Frau Hintereder, die nun plötzlich Elfriede und Joachim sein wollten.
»Kommt rein, kommt rein und wärmt euch ein bisschen auf. Unglaublich, wie kalt es ist! Und habt ihr gesehen, wie viel Schnee wir dieses Jahr haben? Wir sind ja hier einiges gewöhnt, aber so viel …«
Keine Frage, auch Leni ist nervös.
Das Wohnzimmer passt zu ihr. Es ist geschmackvoll eingerichtet und durch und durch pastellfarben. Egal, in welche Richtung man blickt, man sieht nur helle Farben. Es wirkt optimistisch, nicht verzweifelt oder depressiv, denke ich und schüttle gleich darauf den Kopf über meine Küchenpsychologie-Analyse und darüber, dass ich nichts und niemanden mehr unvoreingenommen betrachten kann.
Ich habe Angst, den wollweißen Teppichboden mit meinen Stiefeln schmutzig zu machen.
»Soll ich meine Schuhe ausziehen?«, frage ich, aber Leni und Claus winken ab.
Ich lasse mich in die weichen, weißen Polster der Leinencouch fallen, gucke Claus zu, wie er Leni und mir Kaffee einschenkt, sich selbst wie immer gleich zwei Sahnetortenstücke auf seinen Kuchenteller lädt, und merke, wie ich ruhiger werde. Ich fühle mich wohl hier und staune darüber. Das habe ich nun wirklich nicht erwartet.
Die Gespräche verlaufen entspannt. Leni wirkt interessiert, ich fühle mich aber nicht ausgefragt. Wir sprechen über die Frauenzeitschrift, für die ich arbeite.
»Ich lese sie manchmal beim Arzt oder beim Friseur, habe sie mir aber noch nie gekauft. Ich hoffe, du bist nicht böse«, sagt sie.
Bin ich natürlich nicht und verspreche, ihr ein paar Ausgaben mit Artikeln von mir zu schicken. Leni fragt mich, ob es mir etwas ausmacht, wenn sie draußen kurz eine raucht, was Claus zu einem kleinen Vortrag über Geruchsbelästigung durch Zigarettenqualm im Allgemeinen und Lungenkrebs im Besonderen veranlasst. Leni lacht, hustet demonstrativ und zwinkert mir zu, bevor sie durch die Terrassentür in den kleinen, verschneiten Garten verschwindet. Ich bin erklärte Nichtraucherin, aber es gefällt mir, dass Leni raucht. Hier im Allgäu, bei einer Frau dieser Generation, ist das ein kleiner rebellischer Akt. Wieder etwas, das ich nicht erwartet habe, nicht hier in der Provinz, wo die Welt angeblich noch in Ordnung ist – zumindest, wenn man nicht allzu genau hinsieht.
Claus holt den Laptop, den er seiner Mutter zu Weihnachten geschenkt hat, aus dem Nebenzimmer, um ihr darauf ein paar Fotos von unserem Urlaub auf Hiddensee zu zeigen, die er auf einem Stick mitgebracht hat. Dabei gibt er ihr auch gleich eine kleine Einführung in ihren neuen Computer – es ist ihr erster. Sie ist begeistert davon und will unbedingt so schnell
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