Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
Elternteil des neuen Partners ist immer eine schwierige Angelegen heit. Thomas’ Mutter beispielsweise empfing mich erst nach zwei Jahren – und das Wort »empfangen« beschreibt diesen Besuch ziemlich genau. Sie erwartete mich zusam men mit seinem Vater in ihrem übernatürlich ordentlichen Wohnzimmer mit gekämmten Teppichfransen und polierten Zimmerpflanzen, lächelte schmallippig und bot mir eine Tasse Tee an. Alles an ihr – der Gesichtsausdruck, ihre Körperhaltung, ihre Wortwahl – zeigte, dass sie eifersüchtig war und mich als Konkurrentin betrachtete, die ihr den einzigen Sohn, ihren kleinen Prinzen, wegnehmen wollte. Dem Vater war das sichtlich peinlich, aber er sagte nichts dazu. Weil mir nichts anderes einfiel, lächelte ich ununterbrochen gegen diese Eifersucht an und hatte dabei furchtbare Angst, etwas von dem Tee auf der glänzenden Glasplatte zu verschütten. Es dauerte viele weitere Monate und durchlächelte Besuche, bis Thomas’ Mutter auftaute. Die Lösung, die sie irgendwann für sich fand, war sehr einfach: Sie behandelte mich, als wäre ich Thomas’ kleine Schwester und somit einfach ein weiteres Kind, das es zu bekochen, beschenken, beraten und bemuttern galt. Sex passte nicht in dieses Bild, darum mussten wir bei längeren Elternbesuchen in getrennten Zimmern schlafen – mit Mitte zwanzig. Ich bekam Thomas’ altes Teenagerbett zugewiesen; an der Wand über dem Kopfteil hing ein etwa sechzig Zentimeter hohes Kruzifix mit einem sehr leidend dreinblickenden Jesus, der bei mir regelmäßig Albträume verursachte. Man könnte also sagen, ich bin, was »Schwiegerelternbesuche« betrifft, Kummer gewöhnt, doch diesen Besuch kann man nicht mit früheren Erfahrungen vergleichen. Mit keiner. Wieder einmal stelle ich fest, dass ich zwar über vierzig bin, mich aber so hilflos fühle, als wäre ich zwanzig. Als wäre es mein erstes Mal, der allererste Schwiegerelternbesuch. Nein, es ist noch schlimmer. Mit nichts zu vergleichen, was ich bisher erlebt habe. Wir fahren zur Mutter eines Mörders. Was wird mich dort erwarten? Wie viel Schuld trägt sie an dieser Tat?
Ich merke, wie sehr ich daran gewöhnt bin, in Kindheit und Jugend nach Ursachen und vielleicht sogar mildernden Umständen zu suchen, wenn es um Verbrechen geht. Heute erscheint uns das als völlig normal. In jedem Mordprozess werden Kindheit und Jugend durchleuchtet, eine schwere Kindheit bei der Urteilsfindung berücksichtigt. Doch früher war das anders, ja man kannte den Begriff »Kindheit« überhaupt nicht. Mir fällt ein Seminar während meines Geschichtsstudiums ein, das von der Entdeckung der Kindheit handelte, und das Referat, das ich damals gehalten habe:
»Im Mittelalter unterschied man noch nicht zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt, Kinder waren einfach ›kleine‹ Erwachsene. Sobald sie kräftig genug waren, mussten sie ihren Eltern auf den Feldern, in den Ställen, Werkstätten oder Wirtshäusern helfen. Mit sieben Jahren galten sie dann als ›erwachsen‹ und wurden verlobt. Im fünfzehnten Jahrhundert wurde es noch schlimmer: Man hielt Kinder und Jugendliche für dumm und schwächlich. Nur mithilfe strenger Zucht und Erziehung könne man aus diesen unvollkommenen Wesen nützliche Mitglieder der Gesellschaft formen, lautete die herrschende Meinung. Erst der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau erklärte die Kindheit 1759 in seinem Roman Emile zu einer schützenswerten Lebensphase – danach veränderte sich die Sichtweise auf Kinder.«
Doch die Erkenntnis, dass eine schwere Kindheit eine der Ursachen für ein Verbrechen sein und dies die Schuldfähigkeit eines Angeklagten beeinflussen kann, ist weitaus jünger. Noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ging man in Gerichtsprozessen eher davon aus, dass der Apfel nicht weit vom Stamm falle und es somit kein Wunder sei, wenn Alkoholiker, Prostituierte, Obdachlose, Taschendiebe oder andere sogenannte liederliche Personen verbrecherischen Nachwuchs zeugten. Strafminderung, womöglich so etwas wie Verständnis für ein Ver brechen oder zumindest Interesse an dem Warum, konnte der Beschuldigte nicht erwarten.
Das ist heute anders – so anders, dass ich mir ganz automatisch die Frage stelle, ob Claus’ Kindheit und Jugend irgendwelche Erklärungen für den Mord an Elke liefern. Und jetzt werde ich also gleich seine Mutter kennenlernen.
Ich habe von ihr bisher nur ein paar Bilder auf Claus’ Schreibtisch gesehen. Eines zeigt ihn als vielleicht Neunjährigen
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