Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
sicher, dass sie dieses Erlebnis meinetwegen erzählt hat. Es war eine kleine Botschaft für mich, mit der sie mir mitteilen wollte, dass sie nichts verdrängt oder schönredet, dass sie sich nach wie vor mit Claus’ Vergangenheit auseinandersetzt. Und dass sie weiß, wie schwierig es auch für mich ist, damit klarzukommen.
Vielleicht interpretiere ich zu viel in diese kleine Bemerkung hinein, aber ich fühle mich irgendwie von Lenis Worten getröstet.
Wie mag sie sich gefühlt haben, als sie von dem Mord erfuhr? Sie und Elke hatten ein »sehr gutes« Verhältnis, wie mir Claus einmal erzählte. Für sie war Elke wahrscheinlich die Schwiegertochter und zukünftige Mutter ihrer Enkel, so wie ich es für Thomas’ Eltern irgendwann gewesen war. Ich kann es mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was in ihr vorging, als sie erfahren hatte, dass ihr eigener Sohn seine Freundin umgebracht hat. Ich weiß, wie schockiert ich selbst war, aber Claus ist nicht mein Sohn, und ich habe Elke nicht gekannt. Ich musste nicht um sie trauern, nicht über den Verlust hinwegkommen und mich nicht fragen, ob ich selbst dazu beigetragen habe, dass so etwas passieren konnte – durch meine Erziehung, durch Unaufmerksamkeit oder Desinteresse, als sich die beiden getrennt hatten und für Claus die Welt zusammenbrach, ohne dass es jemand gemerkt hat. Die Frage Hätte ich es verhindern können, wenn …? habe ich mir zum Glück nie stellen müssen.
Abends, zurück in München, blättere ich vor dem Einschlafen in dem Buch von Mordermittler Josef Wilfling, wie immer in letzter Zeit. Irgendwo steht doch etwas dazu, gleich über dem Absatz, der beschreibt, dass es sich seiner Erfahrung nach bei Mördern meist um sogenannte »anständige Bürger« handelt.
»Während die Motivlagen bei Berufsverbrechern meist klar auf der Hand liegen und keine großen Rätsel aufgeben, ist man regelmäßig ratlos, wenn es sich bei den Täterinnen oder Tätern um bislang unbescholtene, anständige Menschen handelt, denen man eine so schreckliche Tat niemals zugetraut hätte. Für Angehörige ist die Suche nach Antworten oft verbunden mit der quälenden Frage, ob sie die verhängnisvolle Entwicklung hätten erkennen oder sogar stoppen können. Nicht selten kommt es zu heftigen Vorwürfen oder Selbstvorwürfen.«
Kurz vor dem Abschied heute, als Claus nicht im Zimmer war, weil er ein neues Regal für sie anbrachte, sagte Leni etwas zu mir, was genau dies belegt. Es waren nur zwei kurze Sätze, die doch alles ausdrückten: »Vielleicht habe ich mich nicht genug um ihn gekümmert. Vielleicht habe ich ihm zu wenig zugehört.«
Sie macht sich Vorwürfe – wie so viele andere berufstätige Mütter –, sich zu wenig Zeit für ihren Sohn genom men zu haben, nicht aufmerksam genug gewesen zu sein. Es würde nichts helfen, ihr zu versichern, dass sie sich nichts vorzuwerfen habe. Alles, was ich dazu sagen könnte, klingt hohl und leer, darum schwieg ich zu diesem Satz. Diese Zweifel und Selbstvorwürfe lassen sich nicht mit ein paar Worten aus der Welt räumen, vermutlich muss man lernen, mit ihnen zu leben.
Vielleicht traue ich mich eines Tages, wenn wir uns besser kennen und sie mit ihrem Computer umgehen kann, ihr den Satz zu mailen, den ich in Wilflings Buch direkt nach dem ersten Besuch bei ihr gefunden habe:
»(…) ausgerechnet das schwerste aller Verbrechen (hat) in den wenigsten Fällen mit dem zu tun, was man als Wurzel allen Übels ansieht, nämlich frühkindliche Gewalterfahrungen, Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen oder der soziale Status. Diese Faktoren mögen zwar die Entwicklung krimineller Energie begünstigen, aber wenn es um das Böseste alles Bösen geht, spielen sie eine eher untergeordnete Rolle …«
Herkunft und Erziehung spielen nach seinen Erfahrungen keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle bei solchen Verbrechen, schreibt Wilfling.
Nachdem ich das gelesen hatte, legte ich das Buch auf den Nachttisch, schaltete die kleine Lampe aus, kuschelte mich ins Kopfkissen und schämte mich. Dafür, dass ich nur eine Minute lang darüber nachgedacht hatte, ob Leni eine Mitschuld an dem tragen könnte, was passiert ist.
Mir wird klar, dass auch ich lernen muss, mit einer schweren Last zu leben; der Erkenntnis nämlich, dass Claus – mein charmanter Cowboy – ganz allein verantwortlich ist und dass es keine Entschuldigungen oder Erklärungen geben wird, um ihn ein wenig von der Schuld reinzuwaschen, die er auf sich geladen hat. Ich
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