Geliebter Normanne
Möglichkeit, den Fluss zu überqueren. Auf dem im Sonnenlicht glitzernden Wasser tummelten sich zahlreiche Fischer- und Frachtboote. Auf der anderen Seite des Flusses erhob sich auf einem mit Palisaden geschmückten Erdwall ein mächtiger Bau aus massiven Quadersteinen, und Hayla wusste sofort, dass sie sich dem Tower von London näherten. Reisende, die Penderroc Castle hin und wieder aufgesucht hatten, hatten von dem Gebäude, das größer als alles andere in London werden sollte, berichtet. Königlicher Palast, Festung, Waffenlager, königliche Münzstätte, Schatzkammer, Gefängnis und Hinrichtungsstätte – nie zuvor war in England all dies in einem einzigen Gebäudekomplex vereint gewesen. Man erzählte sich, dass jemand, der einmal als Gefangener in den Tower gebracht wurde, diesen niemals wieder lebend verließ. Obwohl Hayla Angst hatte, konnte sie sich einer gewissen Faszination für das imposante Bauwerk nicht entziehen, das längst noch nicht fertiggestellt war. Hunderte von Arbeitern eilten geschäftig hin und her. An zwei Seiten des Turms waren Gerüste aufgebaut, auf denen die Männer in schwindelerregender Höhe balancierten. Die Anlage war mit einer hohen Mauer umgeben, deren Tor von einem Fallgitter verschlossen wurde. De Mantes zeigte den vier bewaffneten Wachen den Befehl des Königs und rief: »Lasst uns ein, wir bringen eine Gefangene.«
Der Ruf brachte Hayla in aller Deutlichkeit zu Bewusstsein, weshalb sie nach London gebracht worden war. Für ein paar Augenblicke war sie von der Entwicklung der Stadt und dem Bau des Towers beeindruckt gewesen, jetzt jedoch schloss sich das Fallgitter hinter ihr und würde sich niemals wieder öffnen.
Constance Aubrey streckte ihre Beine aus und traf dabei Haylas Schienbein mit ihrer Schuhspitze.
»Endlich sind wir am Ziel! Ich wünsche mir jetzt ein Bad und möchte am liebsten drei Tage und Nächte durchschlafen.« Constance wandte sich an Luchia. »Du sorgst dafür, dass ich wieder die Kammer bekomme, die ich letztes Mal bewohnte, ja? Und besorge mir heißes Wasser zum Baden.«
»Ja, Mylady, selbstverständlich, Mylady«, murmelte Luchia unterwürfig.
Der Wagen hielt, und nachdem Constance, Luchia und Hugo ausgestiegen waren, trat Yven de Mantes zu Hayla.
»Wenn Ihr mir bitte folgen mögt, Mylady. Ich habe Anweisung, Euch in Eure Unterkunft zu bringen.«
Er sprach, als wäre Hayla ein freudig erwarteter Gast in diesen Mauern und nicht eine Gefangene, aber sie verzichtete auf eine Erwiderung. Begleitet von zwei Wachen, führte de Mantes Hayla über eine Treppe hinauf in den Turm. Von dort ging es durch die größte Halle, die Hayla je in ihrem Leben gesehen hatte, zu einer Wendeltreppe, die sich hinauf- wie auch hinunterwand. Ihr Weg führte natürlich nach unten, und je tiefer sie kamen, desto kälter wurde es. Hayla begann in ihrem dünnen Kleid zu frösteln. Obwohl mit dem Bau des Towers erst vor eineinhalb Jahren begonnen worden war, waren die Wände bereits feucht und mit grünen Flechten überzogen. Einer der Wachhabenden entzündete eine Fackel, als es keine Fensteröffnungen mehr gab, und der Lichtschein warf bizarre Schatten auf die Wände. Die Treppe endete in einem niedrigen, schmalen Gang mit mehreren Eisentüren.
»Ihr bringt mich also in den Kerker«, stellte Hayla fest und war überrascht, wie ruhig ihre Stimme klang.
De Mantes sah sie beinahe entschuldigend an. »Es wurde mir die Anweisung erteilt, Euch bis auf weiteres hier unterzubringen, Lady Hayla. Ihr müsst wissen, der König weilt derzeit nicht in London, sondern auf einem Feldzug im Norden Englands. Dort kam es zu mehreren kleinen Aufständen rund um die Stadt York …«
»Wie lange?«, unterbrach Hayla und sah de Mantes ernst an. »Wann wird der König zurückerwartet, und wie lange werde ich auf meine Verhandlung warten müssen?«
Es war Yven de Mantes anzusehen, dass ihm die Antwort unangenehm war. »Es tut mir leid, Lady Hayla, aber man vermutet, dass der König nicht vor Einbruch des Winters nach London zurückkehren wird.« Er gab der Wache einen Wink, und der Mann schloss eine der Türen auf. »Ich werde jedoch dem König schreiben und ihn bitten, die Verhandlung gegen Euch auch in seiner Abwesenheit durchzuführen.«
»Das möchte ich auf keinen Fall.« Hayla trat in die kleine Zelle, die weit unter der Erdoberfläche lag und darum nicht nur dunkel, sondern auch feucht war. Im Schein der Fackel sah sie sich um und meinte leichthin: »Es ist zwar nicht die beste
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