Geliebter Normanne
Mitleid darin, aber die Kammerfrau würde sich hüten, auch nur ein Wort gegen ihre Herrin zu sagen. So blieb Hayla nichts anderes übrig, als Constances Sticheleien zu ertragen und zu hoffen, dass sie den Hof des Königs bald erreichten.
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20. Kapitel
London, August 1068
I n ihrer Jugend war Hayla zweimal in London gewesen, da sich die Residenzen der angelsächsischen Könige südlich von London befunden hatten und ihre Eltern stets in der Nähe des Hofes lebten. Als Mündel des Königs hielt sich Hayla ständig in Fendenwic auf, das zwei Tagesreisen von London entfernt lag, und da König Harold die Stadt zu eng, zu laut und zu schmutzig gewesen war, hatte kein Grund bestanden, London zu besuchen. Ihre Erinnerung an London war die an eine Ansammlung einfacher, strohgedeckter Holzhütten, die sich an der Stelle der alten römischen Siedlung um den Fluss Themse gruppierten. Das größte und prächtigste Gebäude aus Haylas Jugend war die westlich gelegene, unter König Edward, dem Bekenner, auf den Grundmauern einer alten Abtei erbaute Kirche. Hayla wusste, dass sich der normannische Eroberer William in dieser Abtei zum König von England hatte krönen lassen und – anders als die angelsächsischen Herrscher – London zu seinem Hauptsitz bestimmt hatte. In den wenigen Jahren war die Stadt stark gewachsen. Der Reitertrupp mit dem Wagen, in dem Hayla saß, tauchte in ein Gewirr von engen Gassen ein, in denen sich Schmutz und Unrat türmten. Die Menschen, fast alle mit ausgemergelten Gesichtern und in Lumpen gewickelt, die man kaum als Kleidung bezeichnen konnte, reckten neugierig die Hälse, um die Ankömmlinge zu begaffen. Überall sah Hayla bewaffnete Männer mit eisernen Brustpanzern und Helmen, vor denen die Leute ängstlich zurückwichen. Der Gestank, der bei der anhaltenden Hitze aus den Straßen aufstieg, war beinahe unerträglich. Unwillkürlich rümpfte Hayla die Nase. Sie wünschte, sie hätte eine Hand frei, um sich vor dem Geruch zu schützen. Constance Aubrey lachte spöttisch, als sie Haylas Abscheu bemerkte. Demonstrativ nahm sie ein weißes Spitzentaschentuch aus ihrem Gürtel, hielt sich dieses vor die Nase und nuschelte: »Das hier ist etwas anderes als das Landleben, nicht wahr? In den letzten zwei Jahren hat sich die Einwohnerzahl der Stadt vervierfacht, denn der König lässt überall Festungen errichten, um London zu schützen, und dafür braucht er jede Menge Arbeitskräfte.«
»Angelsächsische Zwangsarbeiter solltet Ihr besser sagen«, gab Hayla scharf zurück. »Die normannischen Steinmetze erhalten Lohn und Brot, während die Angelsachsen wie Sklaven schuften. Warum auch sollen sie geschont werden? Wenn sie zugrunde gehen, werden eben neue Arbeiter besorgt. Es gibt diese ja zuhauf, nachdem die Angelsachsen von ihren Ländereien vertrieben worden sind.«
Constance hob eine Augenbraue. »Sprich nur so weiter, Mädchen, das sind genau die Worte, die der König von einer Verräterin hören möchte.«
Hayla ärgerte sich über ihre unbedachten Äußerungen, aber sie hatte nicht länger schweigen können. Vier Tage lang war sie den Anfeindungen und dem Spott von Constance Aubrey ausgesetzt gewesen. Wenn sie rasteten, ließ Ralph Clemency keine Gelegenheit aus, sich ihr zu nähern, und Mandric schlich die ganze Zeit mit einem waidwunden Blick um sie herum. Gestern hatte Hayla Mandric gefragt, warum er ihre Herkunft dem König überhaupt offenbart hatte, wenn er jetzt so tat, als bereue er sein Verhalten. Mandric hatte nur die Schultern gezuckt und gesagt: »Lady Constance und Sir Ralph sind einflussreiche Leute, mit denen ich es mir nicht verscherzen möchte. Als sie erfuhren, was ich über dich weiß, blieb mir keine andere Wahl.«
Seitdem war Hayla klar, dass nicht Mandric, sondern die beiden Menschen, die Bosgard aus tiefster Seele hassten, für ihre Lage verantwortlich waren. Sie fragte sich zwar, wie es Ralph geschafft hatte, derart in der Gunst des Königs zu steigen, während er zuvor nur als Vasall Bosgards gedient hatte. Es musste etwas mit Constance Aubrey zu tun haben, doch immer wenn Hayla versuchte, das Gespräch auf Ralph zu bringen, verschloss sich Constances Gesicht, und sie gab keine Antwort. Wenigstens erhielt Hayla während der Reise genügend zu essen und zu trinken, denn de Mantes wollte seine Gefangene dem König wohlbehalten übergeben.
Der Wagen rumpelte auf einer Holzbrücke über die Themse. Die
London Bridge
war von hier bis zur Mündung die einzige
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