Geliebter Tyrann
den Händen in dem Gefühl, daß sie hier unerlaubt in etwas sehr Persönliches, Privates eingedrungen war. Sie lächelte leicht. Sie hatte immer gehört, daß Amerikaner so gar keinen Sinn für Romantik hätten; doch dieser Mann hatte eine komplizierte Entführung inszeniert, um die Frau, die er liebte, zu sich zu holen.
Sie sah zu Janie hoch. »Er scheint ein sehr netter Mann zu sein, einer, der offensichtlich eine starke Leidenschaft empfindet. Ich beneide Bianca. Wer ist Amos?«
»Clay schickte ihn mit mir als Ihren Beschützer nach Europa; doch auf der Überfahrt wurde er krank.« Sie blickte zur Seite, wollte sich nicht mehr an diese schreckliche Reise erinnern, auf der fünf Menschen gestorben waren. »Amos hat es nicht geschafft.«
»Das tut mir leid«, sagte Nicole, während sie sich von der Koje erhob. »Ich muß zum Kapitän und die Sache klarstellen.« Als sie sich im Spiegel erblickte, der über der Eckkommode hing, hielt sie mitten im Schritt inne. Ihre Haare waren ein einziges Chaos, fielen ihr in kurzen dicken Korkenzieherlocken ins Gesicht. »Wissen Sie, wo ich einen Kamm finden kann?«
»Setzen Sie sich nur hin, ich werde Sie frisieren.«
Dankbar kam Nicole dieser Aufforderung nach. »Ist er immer so... so stürmisch?«
»Wer? Oh, Clay meinen Sie.« Janie lächelte liebevoll. »Ich weiß nicht, ob er so stürmisch wie arrogant ist. Er ist daran gewöhnt, zu bekommen, was er verlangt. Ich sagte ihm, als er dieses Komplott ausbrütete, das könne nicht gutgehen; doch er lachte mich nur aus. Nun schwimmen wir beide mitten auf dem Ozean, aber diesmal werde ich Clay wohl auslachen, wenn er Ihnen gegenübersteht.«
Sie drehte Nicoles Kopf ins Licht und hob ihr Kinn ein wenig an. »Genau betrachtet, glaube ich nicht, daß es einen Mann gibt, der Sie verschmähen würde«, sagte sie, als sie zum erstenmal Nicole richtig anschaute. Die großen Augen waren bezaubernd, überlegte Janie, und ihr Mund würde einen Mann faszinieren. Er war nicht sehr groß; doch die Lippen waren voll und von einem tiefen Rosa. Und daß die Oberlippe größer war als die Unterlippe, schien ihr besonders reizvoll zu sein. Ein außerordentlich interessantes gutaussehendes Gesicht, stellte Janie insgeheim fest.
Nicole errötete leicht und blickte zur Seite. »Aber ich werde Mr. Armstrong natürlich nie gegenübertreten. Ich muß nach England zurück. Ich habe eine Cousine, die mich gebeten hat, ihre Partnerin in einem Schneideratelier zu werden. Ich habe Geld gespart, damit ich mit ihr diesen Laden eröffnen kann.«
»Ich hoffe, daß wir Ihretwegen umkehren können. Doch mir gefallen diese Männer an Bord nicht.« Janie deutete mit dem Kopf gegen die Decke. »Ich sagte Clay, daß sie mir nicht gefallen; doch er wollte nicht auf mich hören. Er ist der eigensinnigste Mann, den Gott je erschaffen hat.«
Nicole blickte wieder auf den Brief, der noch auf dem Bett lag. »Einem Mann, der liebt, kann man sicherlich manches verzeihen.«
»So so!« schnaubte Janie. »Sie können das sagen; doch Sie hatten ja noch nie mit ihm zu tun.«
Nicole verließ die Kabine und kletterte die schmale Treppe zum Hauptdeck hinauf. Sie spürte, wie ihr eine sanfte Brise über das Haar strich, und lächelte in den Wind hinein. Als sie an Deck den Schritt verhielt, merkte sie, daß mehrere Männer sie anstarrten. Die Matrosen beobachteten sie mit gierigen Augen, und instinktiv zog sie den Schal fester um sich. Sie wußte, daß ihr dünnes Leinenkleid sich im Wind gegen ihren Körper preßte, und sie hatte plötzlich das Gefühl, als stünde sie nackt vor diesen Männern.
»Was wünschen Sie denn, kleine Lady?« fragte einer der Matrosen, während seine Augen an ihrem Körper auf- und abglitten.
Nicole konzentrierte sich zunächst darauf, daß ihre Füße nicht einen Schritt zurück zur Treppe machten und erwiderte dann: »Ich würde gern mit dem Captain sprechen.«
»Ich bin sicher, daß auch er gern mit Ihnen sprechen würde.«
Sie ignorierte das Gelächter der Männer um sie herum und folgte dem Matrosen zu einer Tür im Vorderteil des Schiffes, wo er kurz mit der Faust anklopfte. Als der Kapitän von innen brüllte, sie sollten eintreten, stieß der Matrose die Tür auf, schob Nicole über die Schwelle und schloß die Tür wieder hinter ihr.
Nachdem ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah sie, daß diese Kabine doppelt so groß war wie jene, in der sie und Janie untergebracht waren. Auf einer Seite befand sich sogar ein großes
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