Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
Vom Netzwerk:
wir zu Fuß.
    Wassins Rede entpuppt sich wie erwartet als reines Geschwafel. Von unseren 30 Männern bekommt jedenfalls keiner eine Säge in die Hand. Alle Verwaltungsabteilungen in Soswa versichern händeringend, dass sie ohne den oder die abgezogenen Mitarbeiter zusammenbrechen würden, und bitten inständig, «in Einzelfällen» eine Ausnahme zuzulassen. So verwandelt sich Koschai, nicht anders als die anderen Lagpunkte, zu einem Punkt der Einzelfälle. Alle verrichten nämlich weiterhin die Aufträge ihrer Soswaer Abteilungsleiter, nur unter denkbar ungünstigeren Umständen. Manche funktionieren ihre Pritschen zum Schreibpult um, die meisten aber laufen morgens zu ihren alten Arbeitsplätzen und kehren abends nach Koschai zurück – noch vor Schließung der Kantine, versteht sich. So entwickelt sich ein regelrechter Pendelverkehr zwischen dem Lagerzentrum und der neu entstandenen Tochtergeschwulst.
    Entsprechend ändert sich der Tagesablauf auf dem Lagpunkt und mit ihm der Lebensstil. Die Soldaten im Wachhäuschen schieben den großen eisernen Türriegel noch fleißig auf und zu, doch fragen sie die ein und aus Gehenden nicht einmal mehr, wohin sie wollen. Zwar wurden wir auch auf der Schaitanka nicht mehr bewacht, doch da gab es rundum nur Taiga. Hier bringen es die Leute, die langsam der zentralen Kontrolle entgleiten, sogar fertig, einen Tag blauzumachen und sich um ihre persönlichen Dinge zu kümmern. Sie flicken Kleider, tauschen im Dorf etwas ein oder unterhalten sich einfach. Erstmals im Lager entsteht eine Art Geselligkeit, aus der sich beinahe Laienspielgruppen ergeben. Musikinstrumente gibt es zwar nicht, doch stellt sich heraus, dass trotz der verheerenden Todesraten in den letzten Jahren viele Schauspieler, Sänger und Rezitatoren überlebt haben und dass selbst das Interesse der Wolgadeutschen an Liedern und sonstigen Darbietungen erweckt werden kann.
    Ein verblüffendes Novum ist, dass sich einige Offiziere (zweifellos nach Hinweisen von ganz oben) bemühen, qualifizierte Leute an das Lager zu binden. Unbeholfen und geradezu rührend geht der Chef des Lagpunktes, Hauptmann Lipiridi, ein mit starkem Akzent sprechender Georgier, auf einzelne Fachleute zu und fragt sie, ob sie sich nicht mit dem Gedanken anfreunden könnten, ihre Familien aus Karaganda hierherzuholen – gute Arbeit hätten sie ja schon und eine Wohnung werde man ihnen geben. Einmal beruft Lipiridi sogar eine Versammlung ein und versucht, die Leute mit bestechenden Zukunftsbildern einzunehmen. Die Zusammenkunft endet jedoch mit einem Eklat, weil Gustav Heine, ein gestandener Ingenieur aus Baku, eine selbst in diesem Umfeld unglaublich obszöne Bemerkung macht. Nicht nur Lipiridi, sondern auch uns bleibt vor Schreck die Luft weg, doch es passiert nichts.
    Dostal hat mich nicht vergessen. Nachdem der Leihvertrag mit dem Leningrader Büro stillschweigend annuliert worden ist, arbeite ich wieder für die Produktionsabteilung. Diesmal zeichne ich – ganz offiziell – Streckenprofile für Schmalspur- und primitive Lkw-Wege. Auf Dostals Weisung wird zwei von ihm ausgewählten «Arbeitsmobilisierern» und mir ein winziges Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt. Über diese beiden Jungs – Ljonja Usaitis und Petja Tews –, die mir zu Freunden werden, muss ich etwas ausführlicher berichten, weil ich auch in der Folgezeit auf dem Lagpunkt Worobino) mit ihnen in einem Raum arbeiten und wohnen werde und anschließend in Soswa ein gemietetes Zimmer mit ihnen teile.
    Ljonja ist, obwohl er kein Wort Litauisch kann und nie in Litauen war, den Papieren nach Litauer und deshalb 1941 mit gerade 17 Jahren in die «Arbeitsarmee» eingezogen worden. Sein 1937 erschossener Vater war sowjetischer Handelsvertreter in Istanbul, seine Mutter ist tot, eine ältere Schwester hat man nach Karaganda ausgesiedelt. Er hat in Moskau eine Kunsthochschule besucht und ist durch und durch Künstler. Als wir in Soswa bei der alten Marakulina hausen, kommt er einmal mit einem Verband vom Zahnarzt, sieht sich im Spiegel und ist so fasziniert, dass er, seine Schmerzen vergessend, zum Stift greift und ein düsteres Selbstporträt nach dem anderen zeichnet. Noch charakteristischer ist eine andere Begebenheit aus jener Periode, von der er mir berichtet. Zu dieser Zeit ist er 21, hat aber zu seinem Leidwesen noch keinerlei Erfahrung mit dem schönen Geschlecht gemacht. Eine etwa fünfundzwanzigjährige Krankenschwester verguckt sich in den bildhübschen Jüngling und

Weitere Kostenlose Bücher