Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
setzt man uns zur Umerziehung der Kriegsgefangenen ein? Noch dringlicher benötigt man uns jedoch in Deutschland. Ob man uns dorthin schickt? Vielleicht erkennt man im «Deutschländer» endlich den Antifaschisten?
Als sich nach drei, vier Wochen in puncto Regime, Kasernierung, Verpflegung für die Arbeitsarmisten nichts ändert, beginnen die Leute zu verzweifeln. Auch ich verliere langsam den Mut. Und als nach weiteren Wochen die hoffnungsvollen Gerüchte verstummen, setzt eine Selbstmordserie ein. Erstaunt registriere ich zweierlei. Erstens, dass der Mensch, solange er sich im Griffbereich des Todes befindet, offenbar nicht daran denkt, Hand an sich zu legen. Während meiner ganzen Zeit im Lager ist mir – bis auf zwei Ausnahmen – kein Selbsttötungsfall zu Ohren gekommen. Die Leute klammerten sich an eine Hoffnung – an das herbeigesehnte Kriegsende. Nun aber ist der Krieg aus, und das Warten auf Erleichterung erweist sich als Trug. Das können die meisten nicht verkraften.
Zweitens fällt mir auf, dass die körperlich Arbeitenden eher gegen Suizid gefeit sind. Von den Kumpels, die nach Likino transportiert wurden und dort im Wald arbeiten, hat, soweit ich höre, keiner Selbstmord begangen. Aber hier, in Soswa, wo den Leuten hinter ihren Tabellen und Akten genügend Zeit zum Grübeln bleibt, gibt es vier oder fünf Selbsttötungsfälle. Am nahesten geht mir der Tod eines kleinen, hässlichen Ingenieurs namens Merkel mit einem großen Mundwerk. Er arbeitete direkt neben der Produktionsabteilung, in Ruppels Mechanisierungsressort. Ich hatte mehrmals mit ihm in der Kantine zu Mittag gegessen, mich ein bisschen über seine aufgekratzte Stimmung gewundert. Und plötzlich hing er, als wir zur Arbeit kamen, mit heraushängender Zunge am Strick. Ich habe es nicht selbst gesehen, mir reichte schon die Nachricht von seinem Tode.
Die Zeitungen, die wir jetzt öfter erhalten, sind voller pathetischer Heldenporträts, Geschichten über einzelne Armeeeinheiten und Reportagen über den Enthusiasmus beim Aufbau der verwüsteten Gebiete. In Soswa spürt man von alledem nichts – es ist, als dauere der Krieg fort. Bei uns, den auf der untersten Stufe Stehenden, wird wie eh und je um Lebensmittelzuteilungen gerangelt, bei den Offizieren um Posten und Prämien.
Auch die Tscheka-Abteilung intrigriert weiter gegen mich. Sie will den «Deutschländer» partout dahin schicken, wo er ihrer Meinung nach hingehört, nämlich in die Taiga. Dostal, der seine Hand über mich hält, deutet mir das an. Nachdem ich das Album fertig habe, lässt er sich auf ein kluges Umgehungsmanöver ein: Er leiht mich an das Zentrale Expeditionsbüro aus, das seinen Hauptsitz in Leningrad hat und an das unsere Provinz-Tschekisten nicht heranreichen. Damit macht er obendrein, wie ich am Rande erfahre, noch ein gutes Geschäft. Die Leihgebühr für meine Wenigkeit beträgt nämlich um die 3000 Rubel, während mein monatliches Gehalt bei 400 Rubel liegt.
Das Leningrader Büro ist eine Einrichtung der für die Forstlager zuständigen Hauptverwaltung des NKWD, der die Ausarbeitung größerer Projekte – ganzer Lagpunkte, Schmalspurbahnen, Stapelplätze – im Lagerbereich obliegt. In den Sommermonaten arbeiten sechs oder sieben Ingenieure aus der Newa-Stadt, manchmal auch einige Zeichnerinnen und andere Hilfskräfte, bei uns vor Ort, erkunden die Waldbestände, vermessen Gelände und schlagen Schneisen durch die Taiga. Im Winter ziehen sie sich nach Leningrad zurück und planen die zukünftigen Projekte. Einige dieser nur notdürftig qualifizierten Ingenieure sind ehemalige Häftlinge, die sich mit ihrem dreimonatigen Aufenthalt in unserer gottverlassenen Gegend das Wohnrecht in der zweitgrößten Metropole des Landes erarbeiten. Fünf Jahre später wird übrigens auch das Projektierungsbüro der Bauabteilung (in dem ich tätig sein werde) sowohl Leningrad als auch der Lageradministration unterstellt. Die offizielle Bezeichnung des Büros lautet dann: «Norduralexpedition bei der Verwaltung Postfach Nr. 239».
Chef der nach Soswa angereisten Leningrader Truppe ist Masljakow, ein verschmitzt dreinschauender Zyniker, dessen Aufgabe darin besteht, die in der Ferne ausgearbeiteten und oftmals ziemlich weltfremden Projekte bei den lokalen Behörden durchzusetzen, also den unterschiedlichen Abteilungen der Lagerverwaltung sowie den Sowjetorganen. Dieser Prozess läuft ganz nach dem Motto: «Eine Hand wäscht die andere». Für die an einer Stelle
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