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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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gestrichenen, störenden Sicherheitsvorkehrungen wird an anderer Stelle ein neuer Preis für das Gesamtobjekt veranschlagt, für die hier überhöht abgerechneten Erdarbeiten wird dort ein bisschen an den Koeffizienten gedreht usw. Bei dieser Arbeitsweise muss Masljakow darauf bedacht sein, gute Beziehungen zu den anderen Abteilungen zu pflegen, und kann sich vor allem kein Zerwürfnis mit dem Chef der Produktionsabteilung leisten.
    Indes weiß er zunächst nicht recht, was er mit dem «Entliehenen», also mit mir, anfangen soll. Ein oder zwei Wochen lässt mich Masljakow Tabellen zeichnen, die niemals von irgendjemandem angesehen werden, dann fragt er mich, ob ich mich nicht zufällig mit geodätischen Arbeiten auskenne. Mir sagt der Terminus «geodätisch» zwar so gut wie nichts, doch antworte ich natürlich, wie im Lager üblich, dass ich in der Vergangenheit bereits als Geodät gearbeitet hätte. So erhalte ich den Auftrag, ein Stück Flussufer, auf dem ein Holzlagerplatz errichtet werden soll, zu vermessen. Masljakow teilt mir zwei Helfer zu, Leningrader Jungen, die sich im Sommer ein paar Rubel verdienen wollen, händigt mir ein vorgefertigtes Eintragungsheft (Journal) aus und übergibt mir zwei Instrumente, von deren Existenz und erst recht von deren Funktionsweise ich bis dato keine Ahnung hatte: ein Nivellier- und ein Winkelmessgerät (russisch: astroljabija , die deutsche Bezeichnung kenne ich nicht).
    Ohne ein bisschen Glück und etwas Schlitzohrigkeit kommt man im Lager kaum zurecht. Ich flunkere einem Ingenieur aus Leningrad (er heißt Gladyschew) vor, dass es damals , als ich mich mit Landvermessung befasste, andere Eintragungshefte gegeben habe, worauf er mir bereitwillig sein ausgefülltes Journal überlässt. Ich präge mir ein, wo und wie die Höhen sowie die Winkel vermerkt werden, mache mich damit vertraut, wie die Daten auf das Zeichenblatt übertragen werden, und bin somit für meine Aufgabe halbwegs gewappnet. Tatsächlich geht dann alles glatt über die Bühne. Nach einer Woche kann ich einen Plan des künftigen Stapelplatzes abliefern.
    Etwa zwei Monate nach Kriegsende – ich habe mich schon bei Masljakow eingearbeitet – lässt man uns morgens nicht aus der Freigängerzone hinaus und befiehlt uns anzutreten. Es hat sich herumgesprochen, dass der Chef des Lagers, Wassin, erwartet wird. Wir sind voller Hoffnung. Wassin erscheint – groß, fett, mit rosigem Gesicht und die Brust voller von uns erarbeiteter Orden. Er hält eine Rede, die er von einem Blatt Papier abliest. Es ist die einzige Rede, die ich je von ihm gehört habe.
    Der Ton ist freundlich, fast kameradschaftlich. Zuerst beglückwünscht er uns zum Sieg über das faschistische Deutschland und erwähnt sogar, dass auch wir zum Triumph der «Mutter Heimat» über die Invasoren beigetragen haben. Dann wendet er sich den bevorstehenden Aufgaben zu – dem Wiederaufbau der zerstörten Landesteile, der Instandsetzung des Transportwesens, der friedlichen Ankurbelung der Volkswirtschaft. Für all das brauche man Holz, Holz und immer wieder Holz . «Das Vaterland», ruft er aus, «braucht jeden einzelnen, auch den letzten Arbeitsarmisten!» Und dann kommt der Hammer: Der Plan des Lagers sei aufgestockt worden, und das erfordere die Zurückstellung sämtlicher sonstiger Erfordernisse, alle verfügbaren Arbeitskräfte müssten unmittelbar in der Produktion eingesetzt werden. Im Klartext: Alle «Arbeitsarmisten», die in Soswaer Büros oder Schreibstuben arbeiten, bekommen wieder eine Säge in die Hand, um zur Erfüllung des erhöhten Planes beizutragen.
    Schon am nächsten Morgen werden wir «mit Sachen» in die Umgebung von Soswa verfrachtet. Nur Ruppel, der unverzichtbare Chef der Mechanisierungsabteilung, darf in Amt und Würden bleiben.
    «Mit Sachen» bedeutet, dass man nicht mehr an den alten Ort, also in die Freigängerzone, zurückkehren wird. Meine «Sachen» bestehen ohnehin nur aus einem einzigen Holzlöffel und dem Lateinbuch von Krichatzki. Der größte Teil des Geldes, das wir bekommen, wird für die Verpflegung abgezogen, für den Rest kann man sich, anders als bei Kramer auf der Schaitanka, rein gar nichts kaufen – die Preise auf dem Markt sind schwindelerregend.
    Die Leute werden auf die Lagpunkte Monastyrka, Nr.   91, Worobino und Koschai verteilt. Ich werde mit etwa 30 Mann nach Koschai gebracht, einem Lagpunkt, der seinen Namen einem winzigen Kirchdorf südlich von Soswa verdankt. Die zehn Kilometer dorthin gehen

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