Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
raunt ihm im Vorübergehen zu, sie werde ein Fenster im Krankenhaus, wo sie Nachtdienst habe, angelehnt lassen. Voller Erwartung schleicht Ljonja nach Mitternacht dorthin, steigt in das Schwesternzimmer ein und sieht die Verführerin, die vom Monde beschienen, knapp bekleidet auf dem Bett liegt. Verzaubert bleibt er vor ihr stehen und flüstert: «Wie schön du bist! … Ich muss dich zeichnen!» Die junge Frau fragt ihn ärgerlich: «Ja, willst du denn nicht …?» Als er nicht antwortet, zieht sie sich beleidigt und entrüstet die Decke bis zum Kinn … Am Ende sucht Ljonja das Weite.
Ljonja kann fast alles. Einmal näht er sich aus einer Decke eine Jacke. Er legt die Decke auf den Zeichentisch und schneidet nach Augenmaß die einzelnen Teile mit der Schere zurecht. Ein anderes Mal verfertigt er, was er auch noch nie gemacht hat, aus Abfällen von Autoreifen Stempel mit winzigen Buchstaben. Jetzt hat ihn Dostal als Schnitzer angeheuert: Einen Satz Schachfiguren hat er schon abgeliefert, nun schnitzt er Seitenwände für Dostals neues Radiola.
1947 oder 1948 stellt Ljonja nach einer enttäuschten Liebe einen Antrag auf Familienzusammenführung mit seiner Schwester und fährt nach Kasachstan. Von dort erreicht uns bald die Nachricht von seinem Tode. Woran er gestorben ist, weiß ich nicht. Er wurde lediglich 25 Jahre alt.
Ganz anders ist Petja Tews, ein unkomplizierter Bauernbursche. Seine Eltern sind 1930, als er zwölf oder 13 Jahre alt war, aus der Wolgarepublik nach Kasachstan ausgesiedelt worden. In der Schule zeigte er sich anstellig beim technischen Zeichnen, hier kommt ihm das zugute. Der Leiter der Forstabteilung, Zwetkow, entdeckt sein Talent und überträgt ihm die Anfertigung diverser Waldpläne. Petja sitzt meist in sich gekehrt neben Ljonja und mir und schraffiert oder bepunktet Waldflächen. Wenn er Farben ergattert, malt er die Pläne grell aus. Wie es ihm später ergangen ist, habe ich nie erfahren.
Nach anderthalb Monaten auf dem Lagpunkt Koschai werden wir nach Worobino verlegt, einem «alten», das heißt schon vor 1941 angelegten Lagpunkt, 13 Kilometer nordöstlich von Soswa am Trakt nach Gari. Unmittelbar an dieser verdreckten und morastigen Hauptstraße befinden sich vier oder fünf Häuser des Dorfes Worobino. Nachdem der Wald um den Punkt herum bereits 1941 abgeholzt war, standen die Baracken des Lagpunktes eine Zeitlang leer. Dann wurden invalidisierte deutsche Kriegsgefangene hierhergebracht. Unter ihnen müssen auch Plakatmaler gewesen sein, denn fast alle Barackenwände sind mit akkuraten (nunmehr allerdings abblätternden) gotischen Buchstaben bepinselt – man hatte ihnen von der Politabteilung antifaschistische Losungen verordnet. Komischerweise weist die Bevölkerung des Dörfchens – etwa 15 Frauen – stolz auf die ihnen unverständlichen Buchstaben hin, als hätten sie sie selbst angebracht. Sie sind darüber hinaus von den Gefangenen beeindruckt, weil es unter ihnen keinen einzigen ohne richtigen Beruf gegeben habe.
Nach den Kriegsgefangenen stationierte man in Worobino halb lahme Häftlinge, die Bastschuhe flochten und ähnliche Arbeiten verrichteten. Als sie abgezogen wurden, haben sie mit einer anderen Hinterlassenschaft als die Nazisoldaten an sich erinnert, nämlich mit Haufen von Exkrementen auf den Kantinentischen. Wahrscheinlich wollten sie damit gegen ihre Verlegung auf den acht Kilometer entfernten Lagpunkt Nr. 91 protestieren, wo so manchem von ihnen wieder der Waldgang mit Säge und Beil drohte.
Für uns ist Worobino der erste Punkt, auf dem es keinen einzigen Wachsoldaten mehr gibt. Selbst im Wachhäuschen thronen jetzt unsere Leute – der überhebliche Funk, der einst mit mir gearbeitet hat, ein Mann namens Helmut und ein Ex-Komsomolze, dessen Name mir entfallen ist. Dass sich dieses Trio übler aufführt als die Wachsoldaten, ist nicht verwunderlich, Parvenüs sind immer die schlimmsten. Der Lagpunkt wird nachts auch nicht mehr beleuchtet. Als die gebrechlichen Häftlinge abgezogen wurden, hat man das Kraftwerk gleich mitverfrachtet. In den nun immer dunkler werdenden Herbstnächten ist der Feuerschein des Ofens die einzige Beleuchtung in den Baracken. Nur vier Kerzen werden allabendlich ausgegeben: für die Wache, die Kantine, das Büro und das Ambulatorium.
Die Lockerung des Regimes kommt auch darin zum Ausdruck, dass – vom Sonderfall des ehemaligen Offiziers Götz abgesehen – erstmals ein «Arbeitsarmist» als Chef des Punktes fungiert.
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