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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Forstabteilung in Soswa arbeitet, dies ist Leonid Usaitis, ein Tausendsassa, der alles kann, und ich bin Wolfgang Ruge.»
    Sie beugt sich über Petjas Arbeitstisch und sagt erstaunt: «Oh, das sieht aber bunt aus.» Petja nuschelt auf Deutsch: «Dicker Wald, dicke Farbe.» Die Ärztin geht sofort in die andere Sprache über: «Aha, ihr sprecht Deutsch.» An ihrer Aussprache höre ich, dass sie Mennonitin ist. Sie fragt: «Woher bist du denn?»
    Da Petja nicht besonders redselig ist, kommt kein richtiges Gespräch zustande. So wendet sich die Neugierige, der ich meinen Stuhl anbiete, mir zu. Ich erläutere ihr die Streckenprofile, doch sie unterbricht mich: «Sie sprechen kein Wolgadeutsch, sind aber auch kein Mennonit.» Ich lache: «Nein, ich bin aus Deutschland, aus Berlin.» Sie horcht auf: «Das ist ja interessant. Und wie sind Sie hierhergekommen?» Da ich – zumindest jetzt – mein Leben nicht vor ihr ausbreiten möchte, versuche ich ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Profil zu lenken, setze mich neben sie und rede über meine akkurat gezeichneten Entwässerungsgräben. Doch sie sagt: «Erzählen Sie lieber von sich» – und lächelt mich an. Ich berichte etwas Unverbindliches über die Emigration … Da überläuft es mich heiß und kalt. Während die Neue meinen Worten lauscht, spüre ich unter dem Tisch, wie ihr Knie mein Bein berührt … Absicht oder Versehen? Mir wird schwindlig. Gott sei Dank ermahnt Mullenkraft, der kein Wort Deutsch versteht, zur Fortsetzung des Rundgangs. Jelisaweta Franzewna erhebt sich und sagt auf Russisch: «Sprechstunde ist ab sechs, wenn jemand ein Wehwehchen hat – dobro poshalowat. »
    Erklärlich, dass ich nach diesem Vorfall bald den Medpunkt aufsuchen will. Ich richte es so ein, dass ich als Letzter drankomme. Während ich warte, höre ich durch die dünne Bretterwand ihre Stimme. Endlich ruft Jelisaweta mich herein. Sie steht nun, in Weiß gekleidet, im Behandlungszimmer und schaut mich wie einen alten Bekannten an. Sie weiß genau, dass ich nicht zur Behandlung gekommen bin. «Feierabend!», seufzt sie und dreht den Schlüssel im Schloss herum … Zuerst kann ich es nicht fassen, dann bin ich fast sicher. Angespannt plaudern wir eine Weile. Dann zeigt sie mir, wie sie sich provisorisch eingerichtet hat. Und dann passiert es.
    Die Freundschaft mit Lieschen, wie ich sie in der Folgezeit nenne, dauert über anderthalb Jahre. Wie es im Lager üblich ist, wird sie mehrmals versetzt, doch unserer Zweisamkeit tut das keinen Abbruch. Ich besuche sie regelmäßig auf den Lagpunkten rings um Soswa, und manchmal, wenn sie Medikamente in der Lagerhauptstadt abholt, kommt sie zu mir.
    Mit der Zeit werden die provisorisch gebildeten Außenstellen wieder vom Zentrum aufgesogen – die Leute kommen von umliegenden Lagpunkten nach Soswa zurück. Auch unsere von Dostal begünstigte Troika – Ljonja, Petja und ich – gelangt im Herbst 1945 wieder nach Soswa.
    Das Lager quillt nun, nach Kriegsende, von Neuzugängen buchstäblich über. Massenweise werden deutsche Kriegsgefangene eingeliefert, übrigens auch deutsche Frauen, von denen ich nicht erfahren kann, weshalb sie angeklagt und verurteilt sind. Dann gibt es sogenannte Kollaborateure, zumeist einfache Leute, denen nichts anderes übriggeblieben war, als unter deutscher Besatzung ihrer gewohnten Arbeit nachzugehen. Dafür werden sie nun zu zehn Jahren verknackt. Die meisten Neuzugänge sind aber sowjetische Armeeangehörige, die – wie es offiziell heißt – ihre Kompetenzen überschritten haben, denen also der Verkauf von Armeeeigentum nachgewiesen wird, seltener der Mord an einem Deutschen oder die Vergewaltigung einer deutschen Frau. Die Delinquenten sind in der Regel zu fünf oder sechs Jahren Haft verurteilt, liegen also unter dem allgemein üblichen Strafmaß von zehn Jahren.
    Etwas später kommen Leute, die – gemäß der kürzlich erfolgten Anhebung der maximalen Gefängnisstrafe – zu 25 Jahren verurteilt sind. Bei ihnen handelt es sich zumeist um Angehörige der faschistischen Hilfspolizei, die der Erschießung entkommen sind, hier und da aber auch um Frauen und Mädchen, die ein Verhältnis mit einem deutschen Landser hatten. Ich erinnere mich an eine neunzehnjährige Frau, in deren Papieren als Ende der Haftzeit 1970 angegeben war. Damals schien mir diese Jahreszahl völlig unwirklich und unerreichbar. Die junge Frau hatte denn auch beschlossen, in den Freitod zu gehen, wenn sie nicht bis 1948 freikomme. Was

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