Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Dieser Mann, ein rüstiger Sechziger aus dem Nordkaukasus, heißt komischerweise Mullenkraft, behauptet aber hartnäckig, ein Russe französischer Abstammung zu sein und in Wirklichkeit Moulins zu heißen. Mit dem Spitznamen Kraft habe man seinerzeit nur seinen Berserker-Großvater bedacht, doch sei der Name an seiner Familie haftengeblieben. Mullenkraft hat während des Ersten Weltkrieges Väterchen Zar gedient und – was selten ist – alle vier Tapferkeitsklassen des Sankt-Georg-Kreuzes erhalten. Nun hofft er, dass mit der fortschreitenden Wiederbelebung der alten Traditionen jene Bestimmung des zaristischen Armeereglements wieder in Kraft tritt, die besagt, dass alle Armeeangehörigen, selbst Generäle, die vierfachen Georgskavaliere als Erste grüßen müssen. Schmunzelnd male ich mir aus, wie sich Wassin oder unsere NKWD-Würstchen beim Salutieren vor einem «Arbeitsarmisten» fühlen würden.
Ljonja, Petja und ich bekommen in Worobino ein Zimmer, in dem wir arbeiten und schlafen. Mit Müh und Not können wir drei schmale Pritschen darin unterbringen. Im Grunde sind wir völlig unabhängig vom lokalen Lagergetriebe. Ich zeichne weiterhin Streckenprofile für die Produktionsabteilung, Ljonja schnitzt für Dostal, und Petja malt Waldmassive aus. Geld bekommen wir zwar in der ersten Zeit nicht (in Soswa ist anscheinend nicht geklärt, wer uns bezahlen soll), aber wir brauchen auch keins. Uns reicht, dass wir in der Kantine – auf zentrale Weisung hin – wie Bestarbeiter verpflegt werden. Dafür müssen wir allerdings Leistung erbringen. Deshalb nutzen wir das immer spärlicher werdende Tageslicht bis zur letzten Minute aus. Wenn sich die Abenddämmerung herabsenkt, verrichten wir jene Arbeiten, die man auch im Dunkeln erledigen kann, dann reiben wir Tusche (die bekommen wir in Stäbchen geliefert), waschen die Pinsel aus und spitzen unsere Bleistifte an, gegessen wird erst nachts. Für gelegentliche Aufbesserung unserer Rationen sorgen wir, wenn einer von uns nach Soswa geht, um seine Arbeiten abzuliefern. In der jetzigen Jahreszeit lässt sich da allemal ein Säckchen Kartoffeln oder ein Beutel Rüben klauen.
Wir schaffen es sogar, ein bisschen Gemütlichkeit in unser Kabuff zu bringen. Das Fenster wird von zwei Lappen umrahmt, die man als Gardine bezeichnen könnte, und an der Wand hängt Ljonjas Zeichnung «Morgenappell auf dem Lagpunkt» 16 (die heute noch – 55 Jahre später – gerahmt in meiner Babelsberger Wohnung hängt). So bleibt es nicht aus, dass die anderen abends gerne zu einem Schwatz bei uns vorbeikommen. Da ist zum Beispiel Shora (Georg) Ljustgarten, ein überaus nervöser ehemaliger Moskauer Taxifahrer, der von Zeit zu Zeit abrupte Stoßseufzer von sich gibt: «Schweinebande!» oder «Alle aufhängen!» Ein anderer Besucher, ein untersetzter Kolchosbauer, redet nur vom Essen. Manchmal kommen Gespräche über Frauen auf, die in unserem Leben und Denken unmerklich eine größere Rolle zu spielen beginnen. In Erinnerung geblieben ist mir ein Amnestierter namens Naumann, dem es auf unerfindliche Weise gelingt, eine junge Frau aus dem Dorf in einen halb zusammengefallenen Schuppen in der Zone einzuschleusen. Schließlich wird er von Funk erwischt und wandert drei Tage in den Karzer.
Aber auch bei mir regt sich die Versuchung, nachdem ich jahrelang nicht mehr an Frauen gedacht habe. Dreieinhalb Jahre liegt die letzte Liebesnacht mit Veronika zurück. Seitdem lebe ich wie ein Neutrum. So lässt es mich anfangs kalt, als man in Worobino davon spricht, dass eine Frau den bislang leerstehenden Medpunkt übernehmen wird. Es heißt, sie sei Deutsche, kürzlich amnestiert und seitdem in die sogenannte Arbeitsarmee überführt. Mullenkraft, über das ganze Gesicht strahlend, führt sie auf dem Lagpunkt herum. Auch die Tür unseres Kämmerleins öffnet sich, der Chef guckt herein und sagt zur Ärztin: «Hier sitzen unsere Privilegierten. Denen habe ich nichts zu sagen, auch Sie werden nicht viel mit ihnen zu tun haben.» Nach diesen zwei Sätzen will er den Rundgang fortsetzen, doch die Ärztin tritt neugierig ins Zimmer.
Sie ist Mitte 20, rotblond und etwas üppig. An uns wendet sie sich mit den russischen Worten: «Guten Tag, ich heiße Jelisaweta Franzewna und habe den Medpunkt übernommen.» Ich schaue verunsichert zur Seite. Da keiner von uns sie begrüßt, sage ich « Sdrawstwujte! », und übernehme die knappe Vorstellung: «Das hier ist Peter Tews, ein Kartenzeichner, der für die
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