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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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aufdecken können. Auf diesem Gebiet entwickle ich mich mit der Zeit zu einem wahren Meister. Die Falschangaben über den Einsatz von Arbeitskräften beginnen bei scheinbar unwichtigen Einzelheiten, etwa bei der Bestimmung des Baugrundes (schwerer oder leichter Boden), der Tiefe der Pfostenfundamente unter den Neubauten (angegeben werden immer 1,80 Meter, in Wirklichkeit werden sie nie mehr als einen Meter versenkt, es sei denn, man bereitet schon einen Pfahl für die «Kontrollausgrabungen» der Bankmenschen vor) oder bei der einmaligen beziehungsweise doppelten Beteerung der Holzfundamente. Besonders ergiebig sind falsche Angaben bei Reparaturarbeiten, weil man da die nicht mehr festzustellenden anfänglichen Zerstörungen fast beliebig hoch veranschlagen kann. Wenn die Bankleute, die uns in der Regel einmal im Monat heimsuchen, eintreffen, ist – sofern man es geschickt anstellt – nicht mehr auszumachen, was repariert werden musste und was nicht.
    Bald bin ich Chef einer Abteilung, die Voranschläge berechnet. Unter meiner Obhut arbeiten immer ein bis zwei Häftlinge und eine Frau, Genrietta Michailowna Majewskaja, die künstlerisch gebildet ist, sonst aber nichts kann. (Wie sie, die Exfrau eines sehr bekannten Iswestija -Journalisten, hierher verschlagen wurde, bekomme ich nicht heraus.) Von nun an reise ich jedes Frühjahr im Lager herum und lege auf den verschiedenen Lagpunkten fest, welche Reparaturarbeiten an den Produktionsobjekten und den Baracken durchgeführt werden müssen. Für diese Arbeiten stehen der Verwaltung Sondermittel eines speziellen Etats zu, an deren restloser Verwendung die Administration sehr interessiert ist. Bei diesen Fahrten gewinne ich Einblick in das gesamte Lagergetriebe und lerne nach und nach auch sämtliche Lagpunkte sowie deren Chefs und die technischen Leiter kennen. Das sind – vom Typ Bestushews bis zu ehemaligen Frontoffizieren wie Götz – sehr unterschiedliche und teilweise höchst widerwärtige Kreaturen. Da ich vor ihnen als jemand aus dem «Zentrum» auftreten kann, der über die von ihnen angemeldeten Wünsche entscheidet, begegnen sie mir durchweg respektvoll, manche regelrecht unterwürfig.
    Gelegentlich, wenn gerade ein hohes Tier irgendwo aus der Taiga abgeholt werden muss, nimmt mich unser Lagerpilot, mit dem ich etwas befreundet bin, ein ehemaliger Jagdflieger namens Wolokitkin (von vielen aber potaskuchin , Schürzenjäger, genannt), in seinem einmotorigen Aeroplan mit und setzt mich unterwegs ab. Das Lager besitzt drei solcher Flugzeuge vom Typ U2, mit Leinwand bespannte Doppeldecker für zwei Personen, in denen sich der hinter dem Piloten sitzende Passagier mit einem Strick an das Gestänge bindet, mit dem die Tragflächen verbunden sind. Da es ein richtiges Flugfeld nur in Soswa gibt, kommt es bei den Landungen an der Peripherie mitunter zu abenteuerlichen Situationen. Normalerweise überfliegt er die zum Landen ausersehene Fläche mehrmals, um zu erkunden, ob der Boden nicht sumpfig oder uneben ist, bedeutet dem Fluggast mit der Hand, sich festzuhalten (der Motorenkrach lässt nur diese Art von Verständigung zu), und setzt dann, über Stock und Stein holpernd, zur Landung an. Dabei passiert es schon mal, dass der Passagier sich einen Fuß verstaucht oder seine Brille zu Bruch geht. Einmal ist Wolokitkin sogar mitten im Walde in den Baumkronen notgelandet, aber heil davongekommen.
    In der Regel fahre ich jedoch bei meinen Reparaturreisen mit dem Schlepper, der einen oder mehrere Lastkähne zu den stromabwärts liegenden Lagpunkten zieht. Allerdings muss ich dann selbst sehen, wie ich wieder nach Hause komme. Ist der Rückweg nicht zu weit, bewältige ich ihn zu Fuß, öfter lasse ich mich aber – manchmal tagelang – am Ufer eines unserer großen Ströme Soswa, Loswa oder Tawda nieder und warte geduldig auf eine Mitfahrgelegenheit. Dabei ergeben sich zuweilen seltsame Situationen.
    Einmal liege ich beispielsweise, vergeblich auf einen Schlepper wartend, drei Tage am Ufer der Loswa. Endlich höre ich am frühen Morgen das Geräusch eines sich von Likino nähernden Schiffes. Der Motorlärm nimmt periodisch zu und ab, weil der Fluss meandert. Ich mache mich mit dem Rauch meines Feuers und mit Rufen bemerkbar. Der Schlepper hängt seine Last ab, dreht bei und kommt ans Ufer. Zwei dunkle Gestalten, die wie Straßenräuber aussehen, sich aber Kapitän und Steuermann nennen, ziehen mich an Deck und fragen mich, wie lange ich schon hier warte. Wir plaudern

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