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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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stehen. Dieser Umzug geht für mich persönlich übrigens mit einer erfreulichen Veränderung einher: Mit der Teilunterstellung des Büros unter das Leningrader Expeditionskontor wird mein Gehalt verdoppelt – von 600 auf 1200 Rubel. Zu diesem Zeitpunkt werde ich nämlich schon als Fachmann gehandelt.
    In der ersten Zeit verrichte ich im Projektierungsbüro Zeichenarbeiten. Da es nicht schwierig ist, sich in den Grundrissen und Seitenansichten der hier entworfenen Holzhäuser zurechtzufinden, werde ich bald mit der Projektierung solcher Gebäude betraut. Ich lerne, Dachkonstruktionen und Lüftungssysteme zu berechnen, tüftele Raumverteilungen aus und orientiere mich mit Hilfe von Handbüchern, wie die Züge in den aus Ziegeln gesetzten Öfen am effektivsten zu verlegen sind.
    Dann komme ich, weil Not am Mann ist, in die Verlegenheit, meine unlängst erworbenen spärlichen geodätischen Kenntnisse aufzufrischen. Eine Zeitlang arbeite ich mit Grischa Guds zusammen. Wir schlagen Schneisen in der Taiga. Ich markiere also die Trassen künftiger Holztransportwege oder die Sicherheitszonen geplanter Lagpunkte erst auf Luftaufnahmen und ziehe anschließend in den Wald, um vor Ort die einen Meter breiten Sichtachsen von Sträflingen aushacken zu lassen. Dabei arbeite ich erstmals mit richtigen Verbrechern zusammen. Beim Umgang mit ihnen kommt es – was mir von Anfang an klar ist – darauf an, sich nicht einschüchtern zu lassen. Schafft man das, so verwandeln sich selbst die ungeschlachtesten Männer in fügsame Kinder. Beispielsweise versuchen die mir zugeteilten Leute ständig, das Fällen dicker Bäume zu umgehen oder sumpfiges Terrain zu meiden. Schon bei meinem ersten Einsatz sehe ich durch mein Nivellier, dass der Mann, der die von mir anvisierte Latte hält, nur 95 (nicht vorschriftsmäßig 100) Meter von mir entfernt steht, weil es hinter ihm morastig zu werden beginnt. Ich gebe ihm mit der Hand ein Zeichen, dass er weitergehen soll, doch er stapft nur zum Schein auf der Stelle und hält die Latte dann wieder am alten Platz hin, weiß er doch nicht, dass ich auf meinem Instrument die Entfernungen ablesen kann. Das wiederholt sich mehrere Male, bis er zurückkommt, an seinem Beil herumfingert und meint, er habe schon ein paar solcher Menschenschinder wie mich umgelegt. Obwohl die Drohung alles andere als angenehm ist, bewahre ich Ruhe und sage: «Sieh mal, entweder machen wir unsere Arbeit oder – wenn du mich umgebracht hast und selbst deswegen erschossen worden bist – machen sie andere. Aber anführen kannst du mich nicht, ich sehe durch diese Röhre ganz genau, wo du stehst.» «Wirklich?», fragt er ungläubig. Ich lasse ihn durchgucken und erkläre ihm, wie man die Entfernung abliest. Er ist verblüfft, flucht, geht aber an seinen Platz zurück und stapft nun gehorsam in den Morast.
    Da ich, wenn ich Grischa Guds nicht mit allzu vielen Fragen auf die Nerven gehen will, die im Wald zusammengetragenen Daten allein auswerten muss, zeichne ich mit der Zeit nicht nur die Streckenprofile selbst, sondern berechne auch die Erdarbeiten, die sich aus den Steigerungen und Gefällen ergeben, zeige die Orte auf, wo Schmelzwasser abzuleiten ist, markiere die Nebenstrecken usw. So arbeite ich mich mit der Zeit in die verschiedensten Gebiete, für die das Projektierungsbüro zuständig ist, ein und werde, da ich rechnen und – nicht zu verachten! – manipulieren kann, zum ausgewiesenen Spezialisten für Kostenvoranschläge. Unter den hiesigen Bedingungen ist das sicher eines der wichtigsten Ressorts. Eine Baracke zusammenbauen kann jeder mehr oder weniger erfahrene Zimmermann, und eine Bahn für die Holzabfuhr bringt auch jeder einigermaßen qualifizierte Forstfachmann zustande. Der Haken dabei ist, dass die Arbeiten finanziert, also von der Filiale der Staatsbank in Serow abgesegnet werden müssen. Die Kontrolleure der Bank verstehen aber ihr Geschäft. Sie wittern – gar nicht zu Unrecht – überall Betrug, verlangen immer neue Unterlagen und nehmen gern, wenn sie mal ein Auge zudrücken, ein Geschenk vom natschalnik der Bauabteilung oder vom obersten Chef entgegen. Dass sie überall wie die Prinzen empfangen werden, umsonst zu Mittag speisen und meist für den Wodka nicht bezahlen, versteht sich von selbst.
    Bei der Anfertigung von Kostenvoranschlägen kommt es also darauf an, möglichst größere, sprich teurere Arbeiten so einzuplanen, dass die herumschnüffelnden Bankkontrolleure den tatsächlichen Aufwand nicht

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