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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Bruder von Robert, der mich vor meiner Saunazeit in übelster Weise denunziert hat. Er lächelt stets süffisant, begehrt niemals auf und redet sogar die Häftlinge mit Namen und Vatersnamen an. Obwohl er weitaus qualifizierter ist als Turbojewski, unterzeichnet auch er die Dienstpapiere höchst ungern. Wenn überhaupt, dann unterschreibt er mit Bleistift, um seinen winzigen Namenszug gegebenenfalls wegradieren zu können. Vor dem Krieg war Schtrauchman Ingenieur beim Bau des Stalingrader Traktorenwerkes und hat dort, wie im Lager hinter vorgehaltener Hand erzählt wird, Dutzende Kollegen an den Kadi ausgeliefert. Auch wird gemunkelt, dass er die Schuld für den Zusammenbruch einer Kantine, für die er verantwortlich war, höchst elegant auf einen seiner Untergebenen abgeschoben hat.
    Freie Bürger gibt es unter der Belegschaft des Projektierungsbüros während meiner Zeit nur fünf. Zwei davon sind Männer: der einfältige Komsomolze Wassja Kowrishin, Absolvent eines Technikums, der meistens in der Taiga arbeitet, und der zwei Meter lange und über eine eindrucksvolle Bassstimme verfügende Kruglow. Die anderen drei sind Frauen: die schon erwähnte Genrietta Michailowna, von 1948 bis 1950 Anja Chapun und seit 1950 Taissja Petrowna – die später meine Frau werden wird.
    Kruglow, der ein guter Schachspieler ist, nutzt es gehörig aus, dass auch der Innenminister der RSFSR Kruglow heißt. Bei den katastrophalen Telefonverhältnissen, wo man oft stundenlang nicht mit dem gewünschten Teilnehmer verbunden wird, trompetet er nur ein «Hier spricht Kruglow» in den Hörer, und schon werden alle Gespräche gekappt, um die Leitung für ihn freizugeben. Er hat auch keine Skrupel, an Zeitungsredaktionen mit Kruglow unterzeichnete Eingaben zu schicken und sich dadurch – wer weiß schon, ob sich dahinter ein Sohn oder Neffe des Ministers verbirgt? – Vorteile zu verschaffen. Da Rundfunkempfänger selbst in den großen Städten Mangelware sind, beschwert er sich beispielsweise bei der Prawda darüber, dass das Rigaer Rundfunkwerk (an das er sich aber nie gewandt hat!) der Bitte eines «jungen Ingenieurs in der Taiga» um Zusendung eines Empfangsgeräts nicht nachgekommen sei, und erhält schon nach drei Wochen einen fabrikneuen Apparat.
    Die zweite Kategorie unserer Mitarbeiter sind die «mobilisierten» Deutschen, insgesamt vier Leute, von denen ich nach einer Weile als einziger übrig bleibe. Der Architekt Knopf, einstmaliger Betreuer des Karzers auf der Bolschaja Kossolmanka, erhält nach ein paar Jahren die Erlaubnis, zu seiner Familie nach Semipalatinsk überzusiedeln. Alexander Dressler, ein älterer Herr, wechselt aus dem Projektierungsbüro in den Soswaer KOLP, und Emil Diegel avanciert zum Chefingenieur der Bauabteilung (heute lebt er in Schwäbisch Gmünd, und wir schreiben uns zu Weihnachten oder zu Neujahr Glückwunschkarten). Er, der gleicherweise hervorragend Schach spielt, stammt aus einem deutschen – bis 1930 florierenden – Weinbauerndorf in Transkaukasien, hat in Baku studiert und ist ein Mann, auf den das Sprichwort «Stille Wasser sind tief» hundertprozentig zutrifft. Da er sich auf kleinere Wasserkraftwerke spezialisiert hat, verbringt er manchmal, den Bau von Staudämmen und die Montage des Netzes überwachend, Wochen oder gar Monate in einem der elektrifizierten Dörfer. Aus solch einem Dörfchen kommt einmal – im tiefsten Winter – ein etwa 14 Jahre alter Bursche zu uns ins Büro, um die Unterschrift des «Genossen Bauleiters» auf einer Materialanforderung einzuholen. Weil der Junge auf seiner Fahrt mit dem Pferdeschlitten völlig durchgefroren ist, setzen wir ihn zum Aufwärmen an den Ofen. Dort taut er auf und wird gesprächig. Er erzählt, dass der «Bauleiter» in dem durch den Krieg männerentleerten Nest anfangs bei der Mascha, dann bei der Grunja und anschließend bei der Tonja gewohnt habe, und dass sich acht oder neun Frauen, als Tonja einen Brief von ihm erhielt, erst geprügelt und dann gemeinsam betrunken hätten. Emil schweigt dazu, lächelt nur in sich hinein.
    Bei all seinen Amouren steht aber für ihn – nicht zu überwindender nationaler Dünkel! – fest, dass eine Heirat nur mit einem deutschen Mädchen in Frage kommt. Diese Chance ergibt sich dann tatsächlich, als er 1948 oder 1949 nach Kasachstan zu seinen Anverwandten fährt und beim Umsteigen in Swerdlowsk eine junge Frau aus seinem Heimatdorf wiedertrifft, die zu seiner Zeit noch ein kleines Mädchen war. Die

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