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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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aus ihr geworden ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
    Da die einstige Freigängerzone in der Schulstraße wieder zu einem «normalen» Lagpunkt mit Wachtürmen an den Ecken umfunktioniert wurde, werden wir bei unserer Rückkehr nach Soswa in einer behelfsmäßigen Freigängerzone neben dem KOLP untergebracht. Nun kündigt sich die Auflösung der «Arbeitsarmee» in großen Schritten an. Kontrollen gibt es so gut wie nicht mehr, die Namen der «Arbeitsarmisten» werden nur noch beim Essenholen in der Kantine abgehakt. Die frappierendste Veränderung in den Baracken besteht darin, dass sich einige unserer Leute Freundinnen angeschafft und ihre Pritschen oder Doppelpritschen mit Decken zugehängt haben, hinter denen sich nun im Halbdunkel eine Art Familienleben abspielt.
    Einige der Frauen sind Einheimische, die nur gelegentlich aufkreuzen und auch die Decken mitbringen. Bei den anderen handelt es sich um amnestierte Sowjetdeutsche. Jedenfalls hört man jetzt in unserem nur von wenigen Funzeln beleuchteten Wohnraum ab und zu ein weibliches Lachen, hin und wieder aber auch einen verhalten geführten Ehestreit.
    Ljonja, Petja und ich kommen nur in die Zone, um zu übernachten und um morgens Brot, die balanda sowie abends die uns zustehende Suppe und den Klacks Grütze zu fassen. Den Tag verbringen wir an unseren Arbeitsplätzen, nach 18 Uhr treffen wir uns bei Petja in der Forstabteilung, wo uns ein großer Raum zur Verfügung steht. Dort diskutieren und phantasieren wir oder spielen Schach.
    Wenngleich wir nicht zu verhungern drohen, bleibt die Lebensmittelsituation angespannt. Ich kann glücklicherweise etwas Abhilfe schaffen. Mein alter Saunakumpel Epp hat nämlich Karriere gemacht und steht jetzt dem zentralen Getreidelager vor, dessen bisherige Verwalter allesamt verhaftet und ins Lager gekommen sind, weil sie entweder zu viel oder zu wenig Korn im Speicher hatten. Epp aber ist schlau. Er setzt nicht auf Ehrlichkeit, sondern kalkuliert von vornherein die unvermeidlichen Verluste ein. Das betrifft die Anteile für den Laboranten, der bei Eintreffen eines Transports die Feuchtigkeit des Getreides bestimmt, den Schwund beim Umladen in die Lastkähne, der in den unten zugebundenen Hosen verschwindet, die Bestechung der zur Verhinderung des Betrugs angeheuerten Feuerleute. Der Getreidespeicher befindet sich nämlich neben der (in der Holzsiedlung Soswa äußerst wichtigen) Feuerwehr, deren Männer meistens nichts zu tun haben. Das ist aber bei weitem nicht alles. Revisoren müssen geschmiert, Vorgesetzte bei Laune gehalten werden. Das trifft sogar auf den Chef der Opertschek-Abteilung zu, der die ehemaligen Speicherchefs wegen Veruntreuung sozialistischen Eigentums angeklagt hat, sich aber nicht scheut, bei Epp auch mal ein «Beutelchen für seine Hühner» zu erschnorren. Und schließlich wollen der Lagerverwalter und der Müller vom Geschäft profitieren – und hier komme ich ins Spiel. Da der Müller seine Mühle nicht mit einem Säckchen Mehl verlassen kann (man würde ihn gleich schnappen), gehe ich gelegentlich bei ihm vorbei, stecke mir einen Beutel Mehl unter die Joppe und backe dann in der Forstabteilung etwas zwischen Plinsen und Brot. Den Löwenanteil bekommen der Müller und Epp, aber auch für unser Trio fällt immer etwas ab.
    Wir verbringen die Zeit nach der Arbeit regelmäßig in der Forstabteilung. Die Räume dort werden niemals abgeschlossen, weil sich in einer Ecke der Tag und Nacht besetzte Meteorologische Dienst befindet. Hier arbeiten aus Soswa stammende Mädchen und junge Frauen, die alle zwei Stunden auf dem Hof die Temperatur, den Luftdruck, die Windgeschwindigkeit usw. ablesen und bei der miserablen Telefonverbindung nach Swerdlowsk alle Mühe haben, diese Daten rechtzeitig in die Gebietshauptstadt weiterzuleiten. Petja flirtet nicht ohne Erfolg mit den weiblichen Wetterfröschen, Ljonja ist, sobald er ein Stück Papier ergattert, mit Zeichnen beschäftigt, und ich vertreibe mir, sofern nicht gerade ein Schachspiel ansteht, die Zeit, indem ich mich im Flüsterton mit dem Freigänger Lochmatow unterhalte, der allabendlich bis kurz vor 22 Uhr bei uns bleibt.
    Der etwa fünfzigjährige Lochmatow, ein exzellenter Forstfachmann und deshalb hier unter wechselnden Chefs die graue Eminenz der Forstabteilung, ist ein «alter Lagerhase» und ein Philosoph vom Schlage eines buddhistischen Weisen. Er sitzt seit 1928 (!). Damals wurde er als ehemaliger Sozialrevolutionär zu fünf Jahren Lagerhaft

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