Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
ein bisschen, dann sagt der Kapitän, ein Georgier: «Kannst dich einstweilen auf meine Koje legen und ein bisschen pennen, nachts schmeiß ich dich raus.» Ich lege mich nieder, fahre gewohnheitsgemäß, wie ich es auch heute noch tue, mit dem rechten Arm unter das Kopfkissen und stoße auf ein Buch. «Interessant», denke ich, «was der Käpt’n so liest.» Ich hole den Band heraus: Es ist Hegels «Phänomenologie des Geistes» – auf Deutsch! Vielleicht liegt es nur hier, weil sich aus dem dünnen Papier am besten Ziegenbeinchen drehen lassen? Ich frage den Käpt’n: «Wer liest denn dieses Zeug hier?» «Lass es stecken», antwortet er, «davon verstehst du nichts.»
Anschließend kommen wir ins Gespräch, und ich erfahre, dass er Philosophiedozent in Tbilissi war und von einem seiner Studenten wegen Verbreitung bürgerlich-idealistischer Irrlehren denunziert worden ist. Jetzt sitzt er das siebte Jahr, drei hat er noch vor sich.
Ein anderes Mal fährt ein Motorboot trotz meines Rufens an mir vorüber, dreht dann aber bei und nimmt mich an Bord. «Hättest du auf Deutsch gerufen», erklärt mir der Kapitän, «hätten wir dich gleich eingesackt, aber wir haben erst im letzten Moment gesehen, dass du der Deutschländer bist.» «Hättest du denn einen Russen nicht mitgenommen?» Prompt kommt die Antwort: «Nee, die helfen uns ja auch nicht. Für die sind wir die Fritzen.»
Während meiner Jahre im Projektierungsbüro arbeite ich unter verschiedenen Chefs. Der erste ist Semjon Jakowlewitsch Turbojewski, zugleich Chef der Bauabteilung, ein ganz farbloser Mann, der direkt vom Studium nach Soswa geschickt wurde, sich hier vor der Einberufung an die Front gedrückt hat und nur darauf achtete, nicht irgendwo anzuecken. Aus Furcht, einen Fehler in Zeichnungen oder Berechnungen zu übersehen, richtet er es in der Regel ein, dass sein Stellvertreter (ein Mann namens Mazijewski) die Dokumente unterzeichnen muss. Nur in äußersten Fällen unterschreibt er selbst.
Ein ganz anderer Typ ist der nächste Chef, der das Büro übernimmt, nachdem es von der Bauabteilung unabhängig geworden ist. Er ist fast 60, heißt Boris Fjodorowitsch Pospelow und ist ein bedeutender Chemieingenieur, der wegen eines Unfalls in seinem Betrieb zehn Jahre Haft verbüßt hat und vor drei oder vier Jahren aus dem Lager entlassen wurde. Er schlurft mit krummem Rücken durch die Straßen, aber wenn er am Schreibtisch sitzt und seine Umgebung mit zusammengekniffenen Augen mustert, erkennt man in ihm den abgeklärten Mann mit bissigem Humor, der sich seiner Überlegenheit bewusst ist. Weist man ihm (was höchst selten geschieht) einen geringfügigen Fehler in seinen Berechnungen nach, murmelt er spöttisch: «Nun ja, auch die Sonne hat Flecken.» Seine Lebensweisheit gipfelt in den Worten, dass man normalerweise entweder alle eine Zeitlang oder wenige andauernd belügen könne – dass jetzt aber eine Situation eingetreten sei, wo alle andauernd belogen werden.
Über seine liebestolle, überall Schulden machende junge Frau, die vor etwa einem Jahr aus Zentralrussland zu ihm gezogen ist, lächelt er nur. An das Schwarze Brett der Verwaltung heftet er einen Zettel mit der lapidaren Botschaft: «Ich komme für die Schulden meiner Frau nicht auf. B. Pospelow».
Als Pospelow in Rente geht, wird uns ein Offizier, Hauptmann Agejew, vorgesetzt – eine unglaubliche Mischung aus Dummheit und Arroganz. Er ist außerstande, die einfachsten Zeichnungen zu lesen: Er zeigt auf den Pfeil der Schnittrichtung in einem Grundriss und fragt, ob diese «Trennwand» am Ofen Feuer fangen könne. Die Jungs machen sich hinter seinem Rücken über ihn lustig, wenn er zwischen den Zeichentischen auf und ab geht und Monologe über die Segnungen der Sowjetmacht hält. «Nehmt mich zum Beispiel», verkündet er, «ich bin ein einfacher Arbeitersohn, habe es aber dank der Fürsorge von Partei und Regierung zum Offizier gebracht, verdiene genügend Geld, kann mir etwas leisten. Meiner Frau habe ich vor kurzem einen Pelzmantel gekauft und in ein paar Monaten werde ich mir ein Motorrad anschaffen. Im Kapitalismus dagegen werden die Menschen ausgebeutet, sind obdachlos und verhungern auf der Straße. Man begreift gar nicht, warum die Arbeiter dort nicht Revolution machen und das kapitalistische Geschmeiß zum Teufel jagen …»
Agejew bleibt nicht lange, da er selbst aus der Sicht der Lagerverwaltung untragbar ist. Er wird von Viktor Fjodorowitsch Schtrauchman ersetzt, dem
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