Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
beiden haben inmitten des Bahnhofsgewühls nur eine Stunde Zeit, weil sie nach Süden fährt, um zwei jüngere Geschwister nach dem Tod ihrer Mutter zu sich ins Gebiet von Perm zu nehmen, während er nach Norden, ins Sewurallag, zurückmuss. In dieser Stunde beschließen sie zu heiraten und erreichen, dass sich die junge Frau (sie heißt Hilde) mit ihren Geschwistern nach langen Zusammenführungsformalitäten in Soswa ansiedeln darf.
Im Projektbüro arbeiten auch vier Sträflinge, die nicht wegen politischer Vergehen verurteilt sind und deshalb den Freigängerstatus genießen. Außer der Schreibkraft Jewgenija (acht Jahre Freiheitsentzug wegen Prostitution) und einer jungen Frau namens Valja sind das ein gewisser Genkin, von dem gemunkelt wird, er habe seiner Freundin in einem Eifersuchtsanfall auf dem Moskauer Theaterplatz die Nase abgebissen und dafür fünf Jahre bekommen, und ein Ex-Oberst namens Semjon Iwanowitsch Uchow, dessen Urteil gleicherweise auf fünf Jahre festgelegt wurde. Uchow, über dessen Straftaten man kein Sterbenswörtchen erfährt, hält penibel unser Archiv in Ordnung und ist die Vertrauensperson von Schtrauchman. Offenbar haben sich da zwei NKWD-Spitzel gesucht und gefunden. Uchow schafft sich im Ort eine junge Reinemachefrau als Geliebte an, die wie ein kleines Hündchen hinter ihm herläuft, und bringt es sogar fertig, seine Ehefrau, die ihn bei der Amnestie 1953 abholt, für ein paar Tage im Hause dieser Freundin unterzubringen.
Die Stammbelegschaft des Projektbüros besteht aus politischen Häftlingen. Die meisten von ihnen sind nach Artikel 58, Absatz 10 («konterrevolutionäre Propaganda») verurteilt und müssen zehn Jahre absitzen. Es sind sehr unterschiedliche Leute, die gewissermaßen die von der politischen Justiz repressierte sowjetische Gesellschaft repräsentieren. Obwohl alle Hochschulbildung haben, gibt es unter ihnen sowohl Kluge als auch unglaublich Dumme. Manche sind servil, andere bemühen sich, eine stille Anpasserrolle einzunehmen, wieder andere tragen ein überspanntes Selbstbewusstsein zur Schau. Einige werten ihr Eingesperrtsein als vorzeitiges Ende ihres Daseins, andere als eine durchaus wettzumachende Unterbrechung ihres Lebens.
Der weitaus intelligenteste unter den «Politischen» ist Wladimir Iwanowitsch Jechmanow, der kurz vor Abschluss des Schiffbaustudiums in Leningrad verhaftet wurde, weil er – durchaus wahrheitsgemäß – behauptet hatte, der Kreuzer Kirow , Flaggschiff und Stolz der Baltischen Flotte, sei im Wesentlichen einem italienischen Entwurf nachgebaut worden. Da man beim Schiffbau mit fast allen Sparten des Baugewerbes in Berührung kommt, ist Wolodja, der auch komplizierte Probleme rasch erfasst, überall einsetzbar. So ist er unmerklich zur «höchsten Instanz» des Projektbüros geworden, dem alle strittigen Fragen vorgetragen werden und auf dessen Urteil immer Verlass ist. Darüber hinaus kann er zeichnen, kennt sich in der Musik aus und hat viel gelesen. Er spricht auch einigermaßen gut Deutsch und Englisch. Seine Mutter ist eine Soldatenwitwe, die mehrmals nach Soswa kommt und sich vor der Besetzung der Wache in die Werkzone schleicht, um den Tag still und unauffällig an der Seite ihres einzigen Sohnes zu verbringen.
Wolodja hat eine kleine Romanze mit einer etwas pummligen, aber hübschen Offiziersfrau, die einige Monate aus Langeweile bei uns als Archivarin arbeitet. Sie heißt Irina Poljenowa, strahlt den ganzen Tag und lässt sich, obwohl Offiziersfrau, von uns Irischka nennen. Als ihr Mann Verdacht schöpft, sperrt er sie kurzerhand in der Wohnung ein und lässt sich danach in ein anderes Lager versetzen.
Wolodja Jechmanow kommt aus dem Lager frei, als ich schon in der DDR bin. Er heiratet eine ehemalige Lagerinsassin, Valentina Doronina, und siedelt nach Belgorod über. Aus der Korrespondenz mit Grischa Guds, der später ebenfalls in Belgorod wohnt, weiß ich, dass Wolodja und Valentina sich im Laufe weniger Jahre buchstäblich totsaufen.
Das genaue Gegenbild zu Wolodja ist Aljoscha (Aleksej Konstantinowitsch) Utotschkin, der gewissermaßen die neue sowjetische Intelligenzija verkörpert und wegen mir unbekannter disziplinarischer Verstöße in der Armee einsitzt. Vor mehr als 30 Jahren habe ich auf einer Karteikarte Folgendes über ihn notiert:
«Ursprünglich Arbeiter, ist Aljoscha sich für nichts zu schade und wird bei uns schamlos als Mädchen für alles ausgenutzt. Er entwirft Gebäude, führt technische Berechnungen
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