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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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verurteilt. Ehe er diese abgesessen hatte, erhielt er 1932 erneut fünf Jahre, um dann, zu Beginn des Großen Terrors (1936), noch einmal ohne jede Begründung – «administrativ» – den zur Norm gewordenen «Zehner» aufgebrummt zu bekommen. «Ich würde mich», sagt er lächelnd und mit großen Pausen, «draußen gar nicht mehr zurechtfinden. Schon im Lager hat sich seit Ende der zwanziger Jahre eine Menge verändert, aber dort erst! Hier habe ich meinen Platz gefunden, kann aus der Ferne den unabänderlichen Lauf der Welt verfolgen und mir Gedanken über ihn machen. Was will ich mehr? Ich bin anständig angezogen, satt sowieso, habe ein Zimmer, in das sich schon seit Jahren kein Wachsoldat hineintraut, in den Grenzen des Nordural-Imperiums reise ich frei herum, inspiziere die Wälder und genieße die Natur. Die Obrigkeit, die mich nur mit Namen und Vatersnamen anredet, hört auf meine Ratschläge. Sogar Freunde habe ich.»
    Der Freundeskreis Lochmatows besteht aus der eingeschworenen, also über jeden Zuträgerverdacht erhabenen Lagerprominenz, die auf verschiedene Lagpunkte verteilt ist, von der aber keiner sein Brot mit Bäumefällen verdient. Zu dieser Prominenz gehört der frühere Sowjetbotschafter in Paris, Winogradow, und der ehemalige Korpskommandeur (heute ein Generalsrang) Lidtke, der sich selbst verachtet, weil er seinerzeit Tuchatschewski, den Abgott der sowjetischen Militärs, verhaftet hatte. Ein anderer Prominenter ist der ehemalige Kapitän der Yacht der Kaiserin von Russland, der, wenn er gut aufgelegt ist, vergnügliche Geschichtchen über die Zarin Maria Fjodorowna erzählt. Zu den Freunden Lochmatows gehört der Urenkel Puschkins, der ebenfalls Puschkin heißt und in der Soswaer Werkzone als Schmied arbeitet. Ihn lerne ich in der Folgezeit kennen, und zwar bei einer Schachpartie, die wir um eine Flasche Milch spielen. Er ist ein stämmiger Mann und, so unwahrscheinlich dies bei einem Schmied klingt, ein Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle. Von sich selbst spricht er so gut wie nie, deutet nur mal an, dass er der einzige in der Sowjetunion lebende Nachfahre des über alle Maßen gelobpreisten russischen Nationaldichters ist.
    Ohne mich etwa bekehren zu wollen, tischt mir Lochmatow mit leiser Stimme Weisheiten auf, gegen die ich mich sträube. Ich bemühe mich, in meinem Gegenüber den Glauben an das Gute im Menschen, an die Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft zu wecken. An solche Dinge, erwidert Lochmatow nachsichtig, habe auch er früher geglaubt, doch habe sich bei ihm die Überzeugung verfestigt, dass es dem Menschen eigen sei, seine Träume und Utopien für verwirklichbar zu halten. Tatsächlich bringe er aber immer etwas völlig anderes zuwege als das, was er erstrebt habe, oftmals das genaue Gegenteil.
    «Das mag schon sein», räume ich ein, «aber wir erfahren immer mehr, können das Erfahrene verarbeiten, Schlussfolgerungen daraus ziehen.»
    «Wenn du darauf anspielst, dass ich hier ab vom Schuss sitze», entgegnet Lochmatow, «so irrst du gewaltig. Ich sitze direkt an der Quelle. Denn nur im Lager, wo sich die Menschen völlig entblößen, offenbart sich ihr Charakter. Draußen verstellen sie sich, geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind, hier aber werden sie von den Umständen gezwungen, ohne Maske aufzutreten. Das gilt sowohl für den obersten Chef als auch für den letzten Kriminellen, der vor seinem Verbrecherkönig zittert. Ich brauche mir nicht den Kopf über die Motive der Kremlbosse zerbrechen – ich habe sie tagtäglich en miniature vor mir. Das amüsiert mich. Und mehr kann man vom Leben nicht erwarten …»
    So verplaudern Lochmatow und ich die sich hinziehenden Herbstabende. Manchmal schweigen wir auch lange miteinander.

IM PROJEKTIERUNGSBÜRO
    Bald nachdem ich erneut in die Lagerhauptstadt beordert worden bin, vermittelt mir Dostal einen Arbeitsplatz in dem sich neu formierenden Projektierungsbüro.
    Meine Arbeitsstelle befindet sich zunächst in der Klubstraße (über der Bauabteilung, die uns einen großen Raum abtreten muss) und zieht dann, als das Hauptgebäude des Lagers fertig wird, 1948, in dieses Haus um. Dort bleiben wir nicht lange, weil die im Büro arbeitenden Sträflinge, die keinen Freigang haben, bei jedem Gang zur Toilette von Wachsoldaten begleitet werden müssen und so die lächerlichsten Komplikationen entstehen. Schließlich landen wir 1950 endgültig in einem Haus in der Werkzone, wo uns mehrere geräumige Zimmer zur Verfügung

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