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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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aus, verstaue Sakko und Hose unter dem Kopf. Die junge Frau neben mir glüht. Ich muss an meine erste Fahrt in einem Viehwaggon denken, damals, bei der Aussiedling aus Moskau … Damals fuhr ich mit Veronika. Eng aneinandergepresst lagen wir auf dem handtuchgroßen Flecken, den ich ergattert hatte. Jetzt liege ich beklemmend dicht an einer anderen, Fremden. Ich spüre ihren Atem, die Wärme ihres Körpers. Endlich fährt der Zug an, erfrischende Nachtluft dringt durch die offene Tür. Die Räder unter uns rattern. Das Schaukeln des Waggons und das gleichmäßige Getöse schläfern mich ein.
    Als ich erwache, herrscht unwahrscheinliche Stille ringsum. Der Zug steht, die Hitze drückt. Erst langsam wird mir wieder bewusst, dass ich neben der braunäugigen Spekulantin liege. Jetzt merke ich, dass sie mich mit ihren Beinen umklammert. Ihr Atem verrät, dass sie nicht schläft. Unheimlich und wundersam wird mir zumute. Ich, der ich einst ein Berliner Jungkommunist war, bin hier, irgendwo in Mittelasien, mit mir unbekannten Spekulantinnen in einem Viehwaggon unterwegs. Keine Heimat mehr, keine Ideale, keine Zukunft, selbst die Vergangenheit ist verloren. Alles, was zählte, ist fort: Veronika, mein Glauben, mein Studium. Wirklich ist nur dieser Zug, die Finsternis, die junge Frau neben mir, deren Namen ich nicht einmal kenne.
    «Steht er schon lange?», frage ich flüsternd. Die Braunäugige antwortet: «Bei dir ja – schon lange.» Jetzt erst nehme ich die eigene Erregung wahr. Ich frage mich, ob so etwas überhaupt möglich ist, ein paar Stunden nach einem Abschied für immer? Der Zug setzt sich in Bewegung … Erst langsam, dann zunehmend schneller rattern die Räder unter uns.

FERNSTUDIUM
    An diesen Zeitabschnitt denke ich gern zurück, obwohl ich selten darüber spreche. Er war so abenteuerlich, dass ich mich nicht getraue, Einzelheiten über ihn zu berichten – meine Leser müssten annehmen, dass ich ihnen Lügen auftische.
    Es beginnt damit, dass ich auf der Rückfahrt von Kasachstan in Swerdlowsk aussteige und mich zur Universität durchfrage. Es ist ein bombastisches, im pompösen Stalinstil errichtetes Gebäude. Scheu trete ich in das riesige Foyer ein: schwere Teppiche, Palmen in großen Kübeln, riesige Anzeigentafeln – weitaus ehrwürdiger als die Historische Fakultät der Moskauer Universität. Ich atme den Geruch der Gelehrsamkeit und komme mir fehl am Platz vor.
    Der Sektor Fernstudium befindet sich, weniger vornehm, in einem unscheinbaren Keller. In einem schlichten Büro sitzt dort die Sekretärin, Jewdokija (Dussja) Popowa, eine hübsche junge Frau, die mich erst etwas kratzbürstig empfängt, mich in der Folgezeit aber tatkräftig unterstützt. Sie weiß nicht so recht, was sie mit mir anfangen soll, ist es doch nicht alltäglich, dass sich ein Fernstudent für den dritten Kurs anmeldet. Sie gibt vor, nicht die erforderlichen Fragebögen zu haben, und vertröstet mich auf morgen. Ich erwidere, dass ich nur auf der Durchreise sei und morgen nicht kommen könne. Mir gehe es vor allem darum, die Studienprogramme des dritten Kurses und eine Bescheinigung für die Bibliothek zu erhalten. Schließlich lässt sich Dussja überreden, gibt mir die Programme und stellt mir ein Papierchen für die Buchausleihe aus.
    In der Bibliothek gelingt es mir sogar, der Bibliothekarin klarzumachen, dass ich, weil ich vielbeschäftigt sei, die entliehenen Bände womöglich erst verspätet zurückbringen könne.
    Höchst zufrieden und mit einem Rucksack voller Bücher fahre ich noch kurz vor Mitternacht über Serow nach Soswa zurück. Es gelingt mir, die Gedanken an Veronika zu verdrängen. Jetzt habe ich ein Ziel vor Augen und lasse in meinem Inneren keine Auseinandersetzung über Sinn und Sinnlosigkeit aufkommen.
    Dabei – und das weiß ich natürlich – beginnen die Schwierigkeiten erst jetzt. Würde ich meinen Vorgesetzten sagen, dass ich ein Fernstudium aufgenommen habe, würde man mir jede Fahrt in Richtung Swerdlowsk strikt untersagen. Um überhaupt dorthin zu gelangen, muss ich im Projektierungsbüro erreichen, dass ich mit dienstlichem Auftrag zu irgendwelchen Institutionen in Swerdlowsk oder notfalls in Serow geschickt werde und entsprechende Genehmigungen bekomme. Dabei muss ich den Eindruck erwecken, als nähme ich solche Aufträge höchst ungern an, andernfalls laufe ich Gefahr, das Misstrauen Schtrauchmans oder Washezews zu wecken. Auch muss man damit rechnen, dass es immer junge Offiziere gibt, die

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