Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
nicht abgeneigt sind, einen Diensturlaub in der Gebietshauptstadt zu verbringen. Deshalb muss ich mich um Dienstfahrten bemühen, die innerhalb des Projektierungsbüros vergeben werden. Das hat wiederum einen Haken: Die in unserem Büro ausgegebenen Ausweispapiere haben keinen Wappenstempel. Bei Vorlage solcher Papiere wird die Fahrkarte beim Umsteigen in Serow entweder gar nicht oder erst nach langem Anstehen beglaubigt. Ohne Fahrkarte kommt man aber nicht weiter – die Zugbegleiter stehen bei der Abfahrt des Zuges auf den Trittbrettern und passen auf, dass niemand nachträglich aufspringt.
Doch da hilft mir wieder einmal der Zufall. Mein ehemaliger Sauna-Kumpel Epp ist inzwischen Deutschlehrer in Serow geworden und hat dort sogar, nach der Familienzusammenführung mit seiner Frau und zwei Kindern, eine Wohnung bekommen. Er ist Lehrer einer Klasse, in die auch die faule und dumme Tochter des Bahnhofsbeauftragten des NKWD geht. Mit diesem Tschekisten macht er aus, dass er die Tochter vorm Sitzenbleiben bewahrt, dafür aber bei Bedarf den begehrten Stempel auf der Fahrkarte erhält. So gehe ich in der Folgezeit, wenn ich in Serow eintreffe, zu Epp und dann mit ihm zur Eisenbahn. Er verschwindet dort in einer geheimnisumwitterten Amtsstube, zehn Minuten später verlange ich am Vorortschalter, wo nur Karten in Richtung Soswa verkauft werden, ein Ticket nach einer nahen Station. Ich reiche meinen in Zeitungspapier eingewickelten Fahrausweis (das ist das Erkennungszeichen) mitsamt dem Geld der Kassiererin hinein und bekomme das abgestempelte Billett zurück.
Wenngleich die Ausgabe und das Abstempeln der Fahrkarten in Richtung Swerdlowsk oder Moskau weitaus penibler überwacht werden als in entgegengesetzter Richtung, ist es auch nicht ganz einfach, eine Rückfahrkarte zu ergattern. Da muss ich mir jedes Mal etwas einfallen lassen. Einmal kaufe ich einem Betrunkenen eine Fahrkarte ab. Ein anderes Mal spendiere ich einem Eisenbahner mit Holzbein im Bahnhofsrestaurant zwei Wodka und helfe ihm, seine schweren Bündel in den Waggon hineinzubringen. Er lässt mich in der Gepäckablage mitreisen und lenkt den Kontrolleur ab. Ein drittes Mal stecke ich dem Zugbegleiter, den ich vorher beim Annehmen einer Schnapsflasche beobachtet habe, einen 50-Rubel-Schein zu.
Zu meinen Eisenbahnerlebnissen gehören auch jetzt nicht mehr vorstellbare Überfälle und Betrügereien. Einmal erlebe ich, wie zwei oder drei Ganoven in das letzte Abteil stürmen und wahllos Koffer und Packen aus dem anfahrenden Zug werfen. Ehe sich die Reisenden besinnen, springen sie ab. Bei einer anderen Rückfahrt höre ich mit an, wie sich ein ziemlich gut gekleideter Mann einem anderen gegenüber mit seinen Taschenspielertricks brüstet. Der andere sagt immer wieder: «Aber das oder jenes kannst du nicht», und drängt auf eine Wette. «Na gut», willigt der Bessergekleidete schließlich ein, «wetten wir um 20 Rubel, dass ich dem Leutnant dort das Bündel unter dem Kopf wegziehen kann, ohne dass er es merkt.» Sein Gesprächspartner ist einverstanden. Daraufhin hebt der Taschenspieler den Kopf des schlafenden Offiziers behutsam an, hält bei jedem ungleichmäßigen Atemzug des Liegenden vorsichtig inne und schiebt ihm schließlich einen etwa gleich großen Packen als Kissen unter. Dann sagt er triumphierend: «Nun, Wette gewonnen! … Ich geh mal eben raus, kannst ihn aufwecken und fragen, wo sein Bündel geblieben ist – da wird er ein Gesicht machen!» Als er geweckt wird, geht der Leutnant dem Verlierer der Wette an die Gurgel: In dem Paket hätten sich 80 000 Rubel befunden! Doch Wüten und Schreien hilft nichts, der Dieb ist längst abgesprungen, das Geld weg.
Einmal, im Frühjahr, gerate ich sogar in Lebensgefahr. Ich bin zur Ermittlung der Reparaturkosten nach Scholtschino geschickt worden, lege davor einen illegalen Abstecher in Swerdlowsk ein. Auf der Rückfahrt stellt sich indes heraus, dass der Schienenstrang Serow – Soswa vom Schmelzwasser des Soswa-Flusses unterspült worden ist und keine Züge mehr fahren. Ich muss – koste es, was es wolle – am nächsten Tag in Scholtschino sein. So gehe ich, als ich nach Anbruch der Nacht in Serow ankomme, zur Stelle des Dammbruchs unweit der Stadt und sehe, dass die Gleise in einem etwa 60 bis 80 Meter weiten Bogen über den dahinbrodelnden Fluten des Stromes in der Luft hängen. Weiße Schaumkronen markieren den Verlauf der Strecke bis zum gegenüberliegenden Ufer, das in der Finsternis nur zu
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