Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
möchte (Brot, das rationiert ist, bieten sie mir natürlich nicht an). Die beiden anderen sind ebenfalls Hochschullehrer (Pädagogik und Geschichte). Nachdem ich den Tee getrunken und komplikationslos meine dritte Prüfung abgelegt habe, frage ich den Pädagogikdozenten, ob er mich nicht im Fach Pädagogik prüfen könne. «Das geht ja bei Ihnen wie’s Brezelbacken», sagt er. «Aber gut, an mir soll’s nicht liegen.» So bestehe ich eine weitere Prüfung und lege anschließend noch eine Prüfung über «Geschichte der Westslawen» ab. Fünf Prüfungen auf einen Streich – alle am Anreisetag und zudem mit «ausgezeichnet»! Solch einen Erfolg hätte ich mir bei der Herfahrt nicht träumen lassen. Erstaunt sind aber auch die jungen Hochschullehrer. So einem, sagen sie, seien sie noch nicht begegnet.
Ich werde von ihnen ausgefragt, antworte jedoch möglichst knapp, dass ich in Soswa im Rayon Serow lebe und dort in einem Büro arbeite. «Soswa», fragt Solomon Grigoriewitsch, «gibt es da nicht ein Lager?» Ich bejahe. «Und … sind Sie vielleicht Deutscher?» Auch das bejahe ich. Die beiden anderen blicken unbeteiligt drein, Solomon Grigoriewitsch, offenbar etwas von meiner Situation ahnend, fragt: «Und wo übernachten Sie hier in Swerdlowsk?» Ich sage, dass ich das noch nicht wüsste. Daraufhin er: «Ich kann Ihnen zwar nichts Besonderes anbieten, aber notfalls können Sie bei mir auf dem Fußboden schlafen.» Ich nehme dankend an und komme auch bei meinen nächsten Swerdlowsk-Besuchen darauf zurück.
Dieses Erlebnis beflügelt mich ungemein. Fortan lebe ich gar nicht mehr, ich funktioniere nur noch für mein Fernstudium: pauke, fertige Konspekte und tüftle in den Zwischenpausen die Tricks aus, die mir abermals eine Fahrt an die Universität ermöglichen. Insgesamt schaffe ich es, fünf- oder sechsmal nach Swerdlowsk auszubüchsen. Zu guter Letzt kann ich sogar, ohne dass es Schtrauchman oder die Lagerleitung bemerkt, ein paar Geschichtsstunden in der örtlichen Mittelschule erteilen und dafür das erforderliche Zertifikat für die absolvierte «pädagogische Praxis» bekommen. Die Stunden, die ich gebe, sind nach meinem Dafürhalten grauenhaft, aber ich muss mich, wenn ich eine entsprechende Bescheinigung erhalten will, streng an den vorgegebenen Lehrplan halten.
Natürlich fürchte ich immer, wegen meines Nichterscheinens zu den vorgegebenen Prüfungsterminen und vor allem wegen meiner Nationalität aus der Universität hinausgeworfen zu werden. Bedenkliche Anzeichen dafür gibt es. Als ich beispielsweise bei Professor Bortnik eine Arbeit über den deutschen Bauernkrieg einreiche, verlangt er, die Seite mit einem von mir angeführten Engels-Zitat, wonach auch das deutsche Volk eine revolutionäre Vergangenheit habe, herauszureißen, weil es in Deutschland keine fortschrittlichen Regungen gäbe. Bortnik hat, wie ich später von Dussja erfahre, seinen Sohn im Krieg verloren.
Ein anderer Dozent, der – womöglich hauptamtlich – in der NKWD-Verwaltung arbeitet und an der Uni Staats- und Rechtstheorie unterrichtet, fragt mich mitten im Prüfungsgespräch, während er an meinem Examinationsbüchlein mit dem nicht russischen Namen herumfingert, auf welcher Grundlage – na kakom osnowanii – ich überhaupt studiere. Als ich kurz antworte Na obstschem – auf der allgemeinen –, bricht er die Prüfung ab und gibt mir, obwohl ich keinen einzigen Fehler gemacht habe, mein Studienbuch mit der Eintragung «genügend» zurück. Bei meinem nächsten Swerdlowsk-Aufenthalt sagt mir Dussja, mit der ich mittlerweile auf Du und Du bin, dass die Gebietsverwaltung meine Akte angefordert und noch nicht zurückgegeben habe.
Massiv greift mich dieser Dozent beim Staatsexamen an. Als erste Prüfung muss man dort das Fach Marxismus-Leninismus hinter sich bringen. Fällt man da durch, wird man zu den weiteren Prüfungen gar nicht zugelassen. Zunächst stellt mir der Vorsitzende eine Frage über den Großen Vaterländischen Krieg, von der ich natürlich genau weiß, wie ich sie zu beantworten habe. So spule ich meinen Text ab. Doch plötzlich unterbricht mich dieser Dozent, der in der Prüfungskommission sitzt, und fragt: «Sagen Sie mal, ist die Kriegführung des Genossen Stalin Kunst oder Wissenschaft?» Ich versuche, mich mit einer unscharfen Antwort aus der Affäre zu ziehen, werde aber gleich wieder unterbrochen: «Kunst oder Wissenschaft?» Ich entscheide mich für «Kunst», worauf der Dozent sich (was er aber sicher
Weitere Kostenlose Bücher