Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
erahnen ist. Was tun? Mir bleibt nichts übrig, als das Wagnis einzugehen. Meinen Rucksack mit den Universitätsbüchern binde ich mir fest auf den Rücken und probiere, ob ich mich an den Gleisen forthangeln kann. Es scheint zu klappen – mit den Füßen stemme ich mich, jeweils die nächste Bohle ertastend, gegen das eine Gleis, während ich mich mit den Händen am anderen festhalte. Wenn nur das über die Hände schäumende Wasser nicht so kalt wäre! Die Finger werden klamm und gefühllos, ich kann sie kaum noch bewegen. Plötzlich ertaste ich statt der Bohle eine gähnende Leere. Ich versuche, die übernächste Bohle zu erspüren – Gott sei Dank, sie ist noch da. Wenn nur nicht, schießt es mir durch den Kopf, zwei Bohlen hintereinander fehlen … Ich zwinge mich, mich auf meine Schritte und Griffe zu konzentrieren. Noch acht Schritte, noch drei – dann: Geschafft! Obwohl meine Zähne klappern und ich völlig durchnässt bin, erfasst mich ein Freudentaumel – kein Aufpasser, kein reißender Strom, kein Verkehrszusammenbruch kann mich aufhalten!
Mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken bewältige ich im Dauerlauf die Strecke bis zur nächsten Station, erwische dort den absolut menschenleeren Zug, der wegen der Überschwemmung stehen geblieben ist, sich aber bald in Bewegung setzt. Im Abteil kann ich mich gemächlich ausziehen, meine Sachen trocknen und sogar ein bisschen schlafen.
Große Schwierigkeiten ergeben sich für mein Studium natürlich auch dadurch, dass ich Deutscher bin. Es gibt jedoch Fälle, wo dieser Umstand wider Erwarten zu meinen Gunsten ausschlägt. Im Oktober, als ich zum ersten Mal wieder nach Swerdlowsk fahren kann, treffe ich Dussja an, als sie gerade ihr Büro abschließen will. «Wie gut, dass Sie noch da sind», sage ich nach der raschen Begrüßung, «ich möchte nämlich außer der Reihe ein paar Prüfungen ablegen.» Erstaunt fragt sie, in welchen Fächern, und meint: «Werde gleich mal nachsehen, wer von den Lehrkräften morgen im Hause ist.» «Nicht morgen – heute!», sage ich. «Morgen muss ich schon wieder an meinem Arbeitsplatz sein.» Sie blickt mich entgeistert an: «Das geht nicht, heute ist niemand mehr da.» «Nun», erwidere ich, «die Dozenten müssen doch irgendwo wohnen. Ich könnte zu ihnen nach Hause gehen und mich examinieren lassen.» Dussja findet diese Idee unmöglich, doch ich rede unbeirrt auf sie ein. «Nun ja», sagt sie endlich, «vielleicht können Sie zu Solomon Grigoriewitsch Lifschitz gehen. Er wohnt im Gemeinschaftshaus der Uni, da gibt es ein paar Zimmer für unverheiratete Lehrkräfte.» Zögernd gibt sie mir die Adresse.
Ich finde erst das Studentenwohnheim, dann das Zimmer im dritten Stock, klopfe an und werde hineingebeten. Drei junge Männer sind gerade beim dürftigen Abendbrot. Es gibt nur Schwarzbrot und Tee. Einer mit einer verkrüppelten Hand (es ist Solomon Grigoriewitsch) fragt mich nach meinem Begehr. Als ich antworte, dass ich, Fernstudent des dritten Kurses und auf der Durchreise, den Genossen Dozenten ausnahmsweise bitten möchte, mich im Fach «Koloniale und halbkoloniale Länder bis 1789» zu prüfen, ist ihm sein Unmut am Gesicht abzulesen. Dennoch widerstebt es ihm offensichtlich, mich unverrichteter Dinge fortzuschicken. Er blickt mit einer entschuldigenden Kopfbewegung zu seinen Kollegen hinüber und sagt unwirsch: «Setzen Sie sich hierher.» Er selbst räumt, da es keinen vierten Stuhl im Raum gibt, einige Zeitungen vom Bett. «Hier haben Sie ein Blatt Papier, machen Sie sich ein paar Notizen zu folgenden Fragen.» Er überlegt einen Moment und nennt dann seine Fragen. Ich nehme Platz und sage: «Ich kann gleich antworten, Vorbereitungszeit brauche ich nicht.» Er schaut mich noch unzufriedener an, setzt sich mir gegenüber und sagt: «Nun, schießen Sie los.» Als ich zur Antwort auf die zweite Frage ansetze, unterbricht er mich: «Nun, ich sehe: Sie beherrschen den Stoff. Das reicht.» Während er eine Note in mein Studienbuch einträgt, räuspere ich mich: «Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich auch noch für die Periode ‹von 1789 bis 1917› prüfen lassen.» Fast belustigt schaut er mich an, zuckt mit den Schultern. Die beiden am Tisch sitzenden Männer mustern mich neugierig.
Die zweite Prüfung verläuft wie die erste. Als ich danach bitte, mich auch für die Periode «von 1917 bis zur Gegenwart» zu prüfen, lachen alle drei und fragen mich, ob ich nicht erst mal ein Glas Tee mit ihnen trinken
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