Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
fürsorglicher Helfer. Er nahm Rücksicht auf mich, scheinbar rührend, liebevoll …»
Veronika glaubt dem NKWD-Offizier lange nicht, trägt sich mit Selbstmordgedanken, ergibt sich schließlich. Sie wird schwanger. Der Oberst, der verheiratet ist, lässt sie, als er davon erfährt, natürlich fallen und ersucht um seine Versetzung, die auch bewilligt wird.
«Ich habe geglaubt, ich sei stark», sagt sie, «aber ich habe mich als schwach erwiesen, ganz anders als du!» Oh Gott, denke ich, was bin ich schon für ein starker Mann?! Habe mich doch nur durchgemogelt!
Ich sage ihr, dass ich gekommen bin, um sie und ihr Töchterchen mit nach Soswa zu nehmen. Sie schüttelt den Kopf: «Das ist unmöglich … Es hat nichts mit Liebe zu tun … Liebe ist für mich ein Land, in das es keine Rückkehr gibt … Ich will nicht verhehlen, dass Zuneigung zu Juri Aleksejewitsch mitspielt. Aber Zuneigung und Liebe sind zweierlei … Wolfgang, du musst mich verstehen. Er hat sich meiner angenommen, hat mich aus einer schier ausweglosen Lage gerettet, mich buchstäblich vor dem Selbstmord bewahrt. Ich kann ihn einfach nicht verlassen, ich würde zum zweiten Mal Verrat üben.»
Wir sprechen miteinander bis zum Morgengrauen. Zum Frühstück erscheint Juri Aleksejewitsch – ein stattlicher Mann (älter als ich), zurückhaltend, gut angezogen. Er begrüßt mich nicht unfreundlich, aber reserviert. Während des Essens sprechen wir kaum miteinander. Was sollen wir auch sagen? Schließlich bin ich gekommen, um ihm seine Frau und das ihm ans Herz gewachsene Kind wegzunehmen. Ich bin hier ein Fremdkörper, ein Störenfried. Ich muss verschwinden.
Juri Alexejewitsch geht zum Dienst (ich glaube, er ist Arzt). Veronika bringt das Kind zum Kindergarten und geht im Metallkombinat vorbei, um sich zwei freie Tage zu nehmen. Ich bleibe in der mir fremden Wohnung, mit den Spuren des fremden Lebens. Nach der durchwachten Nacht schlafe ich, von verworrenen Albträumen behelligt, erschöpft ein.
Als Veronika wiederkommt, ist sie schon im Standesamt gewesen und hat einen Termin für unsere Scheidung vereinbart. Die Ehen mit Deutschen werden hier – sozusagen als Routineangelegenheiten – in wenigen Minuten geschieden.
Am 19. August 1946 stehen Veronika und ich vor der Standesbeamtin. Die üblichen Fragen und die entsprechenden Antworten. Dann muss ich zweimal unterschreiben. Wortlos verlassen wir die Amtsräume. Im Grunde haben wir nichts mehr zu besprechen. Sie bietet mir die kläglichen Überbleibsel meiner aus Moskau mitgebrachten Sachen an, doch ich winke ab. Nur meine Dokumente, Fotos, Studienunterlagen nehme ich an mich.
Ich begleite meine nun geschiedene Frau zu ihrem Betrieb. Am Wachhäuschen wartet schon (auch das hat sie organisiert!) ein Lkw-Fahrer, der täglich in die Gebietshauptstadt fährt. Mit ihm hat sie vereinbart, dass er mich zum Bahnhof Karaganda mitnimmt. Zum Abschied küssen wir uns. Dann winkt sie mir mit einer müden Handbewegung zu und geht – ohne noch einmal den Kopf zu wenden.
Der Bahnhof von Karaganda wirkt bei Tageslicht noch trostloser als in der Nacht. Wann der «Spekulant» nach Petropawlowsk abfährt, weiß niemand. Der Fahrkartenschalter ist geschlossen. Trotzdem drängen sich dort die Leute. Die Schlange zieht sich bis zum Ende des Bahnhofsgebäudes. Ich bringe es einfach nicht fertig, mich einzureihen, ich kann nicht stillstehen, muss mich bewegen.
Soll ich es wagen, ohne Fahrkarte zu fahren? Kontrollen sind zwar selten, doch wenn ich erwischt werde, kann’s gefährlich werden. Bei den fragwürdigen Papieren, die ich habe, muss ich damit rechnen, eingelocht zu werden. Für ein paar Wochen, wenn meine Lagerverwaltung eine wohlwollende Auskunft über mich gibt, mit mehr, wenn nicht.
Unschlüssig streune ich um den Bahnhof. Über die Gleise, an der Wasserpumpe vorbei, über den Vorplatz. Denke an Veronika. Wie traurig sie aussah, als sie davontrippelte … Bei der dritten, vierten Runde um den Bahnhofsvorplatz ertappe ich mich dabei, wie ich eine junge Frau anstarre. Große braune Augen, wie Veronika. Werde ich jetzt in jeder Braunäugigen Veronika sehen?
Die Braunäugige muss meinen Blick gespürt haben; auch sie mustert mich. Sie ist mit einer Freundin zusammen, einem kess wirkenden Mädchen, etwa gleichaltrig, höchstens 25. Beide tragen schulterfreie Kleider aus buntem Sommerstoff (russisch: sarafan ), sind braun gebrannt, stechen von der ganzen Umgebung ab. Sorglos sitzen sie auf einer Truhe,
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