Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
neben ihnen liegen diverse Bündel und Taschen. Solche Gepäckstücke erregen hier keine Aufmerksamkeit – viele schleppen ja all ihr Hab und Gut mit sich. Eher fällt schon ein Reisender ohne Gepäck auf, ich zum Beispiel, mit meinem in ein weißes Tuch gewickelten Brotlaib (Veronikas letzter Gruß). Ungewöhnlich, wenngleich zerknittert, ist auch mein frisch gekaufter amerikanischer Anzug. Kein Wunder, dass die beiden Frauen mich neugierig anschauen. Bei meiner nächsten Runde spricht mich die Kesse an: «Wollen wir den Bahnhof unsicher machen, junger Mann?»
Schnell kommt ein Gespräch in Gang. Wohin ich in diesem Dandy-Aufzug wolle, ob ich schon eine Fahrkarte hätte. Auch die Braunäugige sagt ein paar Worte. Sympathische Stimme, überhaupt ist mir ihre ganze Erscheinung vertraut. Plötzlich sagt sie zu ihrer Freundin: «Wollen wir ihm nicht sagen, wie man zu einer Fahrkarte kommt?» Die Freundin zögert, rückt dann aber mit dem Tipp heraus. Ich solle ins Revier der Transportmiliz an der Bahnhofsecke gehen und – wenn nur ein Milizionär im Zimmer sei – 100 Rubel auf den Tisch legen und mein Reiseziel nennen.
«Ihr wollt mich doch nicht verarschen?», frage ich misstrauisch.
«Mann», sagt die Kesse, «Leute wie dich verarscht man nicht!» Für wen halten die beiden mich?
Der Transportmilizionär, dem ich meinen Geldschein auf den Tisch lege, zeigt keinerlei Regung. Ich kehre zu meinen neuen Bekannten zurück: «Wie nun weiter?» «Ganz einfach», werde ich aufgeklärt, «nach zehn Minuten gehst du wieder hinein und bekommst die Karte. Sie wird bereits auf dem Tisch liegen». Und wirklich – es klappt.
Jetzt bin ich schon so etwas wie ein Komplize der beiden Frauen. Zwar weiß ich nicht, was mir diese Ehre verschafft, doch erzählen sie mir in der nächsten Stunde mit frappierender Offenheit, wer sie sind und was sie treiben. Sie gehören einem Schieberring an, die Kesse schon zwei Jahre lang, seit der Handel mit dem Beutegut aus Deutschland in Schwung kam, die Braunäugige seit ein paar Monaten. Sie bringen Textilien, Uhren, Feuerzeuge, allerlei Ringe und Ketten, manchmal auch Schuhe oder Fotoapparate aus Moskau nach Kasachstan und tauschen sie gegen Lebensmittel ein. In entgegengesetzter Richtung verfrachten sie Mehl, Butter und Speiseöl. Heute haben sie schon zwei große Kisten als Expressgut aufgegeben: Zum Normaltarif kommen 300 Rubel Schmiergeld. Sie kennen die maßgebenden Leute in den Gepäckannahmestellen aller größeren Bahnhöfe in Kasachstan. Auch mit den Beamten der Transportmiliz stellen sie sich gut.
«Komm doch auch zu uns», sagt die Braunäugige. Die Kesse ergänzt: «Papiere besorgt dir der Chef – einwandfreie.» Ehe ich ja oder nein sagen kann, nennen sie mir die Adresse ihres Stabsquartiers in Moskau, Babuschkino . Dort träfe ich jederzeit jemanden an. Ich könne mich auch auf sie berufen (die Kesse nennt ihren Namen), ich würde vertrauensvoll aufgenommen.
Seltsame Offerten macht das Schicksal.
Das Angebot steht, die beiden kommen nicht mehr darauf zurück, behandeln mich aber so, als hätte ich zugesagt. Ihr Abendbrot teilen sie mit mir – Speck wie aus einer Schaufensterauslage in Friedenszeiten! Sogar Zucker zum Tee. Nach dem Essen zaubert die Kesse richtige papirossy hervor. Ich inhaliere tief, mir wird ganz schwindlig. Dabei bringt mich diese sonderbare Bekanntschaft schon ohne blauen Dunst durcheinander. Ich betrachte die Braunäugige: die Schultern, ihre Hände, ihre ganze Gestalt – fast eine zweite Veronika …
Die Kesse macht, wie sie sagt, eine «Rekognoszierungsrunde». Ich bleibe mit der Braunäugigen allein. Ich erzähle ihr, dass ich aus Berlin stamme, in Moskau studiert habe, berichte über die Kriegsjahre im Lager, deute an, warum ich nach Karaganda gekommen bin. Ihre Augen weiten sich.
Die Kesse hat inzwischen in Erfahrung gebracht, wann der «Spekulant» abfährt und welche Waggons angekoppelt werden. Wir schleppen die Truhe und das übrige Gepäck zu diesen Waggons, die auf einem entfernten Abstellgleis stehen, suchen uns einen möglichst sauberen aus und steigen ein. In einer Ecke lassen wir uns häuslich nieder, bereiten unser Lager vor.
Als die für Petropawlowsk bereitgestellten Waggons bekanntgegeben werden, ist es bereits dunkel. Die Waggons werden von den Reisenden gestürmt. Schieben, Stoßen, Fluchen – aber wir sind hinter unserer Truhe in Sicherheit. Irgendwann hat jeder ein Plätzchen gefunden. Es wird heiß, ich ziehe den Anzug
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