Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
dadurch erkennen, dass der Gedanke, wie flüchtig auch immer, erwogen wurde): Seine Frau, meine Mutter, Taissja Ruge, hätte, wenn sie nach Westdeutschland gegangen wären, ihre in Sibirien zurückbleibende Mutter nicht mehr besuchen können. Auch die Tatsache, dass Wolfgang Ruge buchstäblich am Tag seiner Rückkehr eine Stelle am Institut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften angeboten wurde (als einfacher wissenschaftlicher Mitarbeiter mit knapp über 600 Mark Monatsgehalt), mag seinen Vorsatz, in der DDR zu bleiben, noch bestärkt haben. Entscheidend aber war etwas anderes.
1949, als Leonhard dem Sozialismus den Rücken kehrt, ist an das Ableben Stalins nicht zu denken. Die Diktatur scheint nach dem Krieg gefestigt wie nie zuvor. Jeder Versuch der Demokratisierung (wie etwa in Jugoslawien) wird als konterrevolutionär verunglimpft. Noch während Leonhard sein Buch schreibt, finden Schauprozesse in mehreren sozialistischen Staaten statt. Der Terror hat noch immer kein Ende gefunden.
1956, bei der Rückkehr von Wolfgang Ruge, ist Stalin bereits drei Jahre tot. Auf dem berühmten 20. Parteitag leitet Nikita Chruschtschow die Abkehr vom Stalinismus ein. Zum ersten Mal werden die Verbrechen des Diktators benannt. Die Atmosphäre in der Sowjetunion scheint sich zu wandeln. Wolfgang Ruge glaubt Anzeichen dafür zu sehen, dass der Aufbau einer wahrhaft sozialistischen Gesellschaft beginnt. Wenngleich für ihn feststeht, dass der Stalinismus ein verbrecherisches System war, hat er den Glauben bewahrt an eine Gesellschaft ohne Konkurrenz, ohne erniedrigende Ungleichheit, ohne die Herrschaft des Geldes.
Aber erklärt das, warum sein Bericht ausbleibt?
Gewiss, eine Veröffentlichung in der DDR war unmöglich. Und eine Veröffentlichung im anderen, westlichen Deutschland, das er bis zum Schluss als das fremde, ja sogar als das gegnerische empfand, kam für Wolfgang Ruge nicht in Frage. Auch hätte ein solcher Schritt wahrscheinlich schwerwiegende Repressalien nach sich gezogen. Und wer will einen Menschen, der 15 Jahre in Lager und Verbannung zugebracht hat, verpflichten, um der Wahrheit willen weitere Repressionen auf sich zu nehmen? Doch warum hat er den Bericht nicht wenigstens niedergeschrieben? Warum lag das fertige Manuskript nicht 1989, zur Wende, im Schubkasten bereit? Muss man annehmen, dass der Historiker Wolfgang Ruge von der Vergangenheit nichts wissen wollte? Hat er das Erlebte verdrängt, um mit seinen Kompromissen leben zu können?
Dass er es nicht einfach verdrängt hatte, kann ich bezeugen – und viele andere auch. Zumindest im nicht öffentlichen Raum hat er offen über seine Jahre in der Sowjetunion gesprochen (im Gegensatz zu den meisten anderen Deutschen, die aus der Sowjetunion in die DDR gingen). In der DDR hatten solche Erzählungen Sensationscharakter. Sie hatten den Geruch der Blasphemie, und ich erinnere mich gut daran, wie mein Vater in seinem großen, grünen Ledersessel saß und dem gebannten Publikum seine Geschichten über Gulag und Verbannung präsentierte, immer in anekdotenhafter Form, immer lächelnd, immer ohne erkennbare emotionale Beteiligung.
Oft, und je älter ich wurde, desto öfter, habe ich ihn aufgefordert, sein Leben, oder zumindest diesen Teil seines Lebens, aufzuschreiben. Stets winkte er ab: Niemand würde seine Geschichte veröffentlichen, wozu also? Für mich, habe ich geantwortet. Für die Nachwelt. Aber er schüttelte nur den Kopf. Dass er in Wahrheit längst daran arbeitete, hat er mir verheimlicht. Nicht etwa, weil er mir verheimlichen wollte, was er schrieb, sondern dass er schrieb. Weil er, wie ich heute verstehe, keineswegs sicher war, ob er mit seinem Lebensstoff fertig werden würde.
Denn ein Bericht ist nicht einfach ein Bericht. Ein Bericht ist immer auch ein Auswählen, Werten, Stellung-Beziehen. Jeder Berichtende nimmt eine Haltung ein, formuliert einen Standpunkt. Um diesen Standpunkt hat Wolfgang Ruge zeitlebens gerungen. Seine Haltung zu dem, was er zu berichten hatte, veränderte sich fortwährend. Noch in die letzten Fassungen seines Berichts fügt er Passagen ein, die auf ein anhaltendes ideologisches Besetztsein hindeuten, während er andererseits schon sehr früh in radikaler und mitunter sachlich anfechtbarer Weise gegen die Sowjetunion urteilt – so zum Beispiel, wenn er den Begriff «Genozid» für das Vorgehen gegen die nationalen Minderheiten in Anschlag bringt.
Es kommt noch etwas anderes hinzu. Als ich seinen Bericht nach
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