Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
der brutalen Militärdienstpflicht in der Sowjetarmee entginge, dass sich für ihn ganz andere Ausbildungsmöglichkeiten ergäben. Auch solle ich an mich selbst denken. In Deutschland könnte ich das Lager mit all diesen Wassins und Schtrauchmännern vergessen, könnte schöpferisch tätig sein, vielleicht sogar Vorlesungen halten oder Bücher schreiben. Zudem hatte Mutter die Babelsberger Villa, in der sie wohnten (und in die auch wir einziehen würden), in prächtigen Farben geschildert.
Kurzum: Ehe unsere Swerdlowsker Woche verflossen ist, entschließen wir uns endgültig, in die DDR überzusiedeln. Und dann kommt tatsächlich (natürlich nach sowjetischen Maßstäben!) Bewegung in die Sache. Im Juli 1955 schickt uns die Konsularabteilung der DDR-Botschaft in Moskau Fragebögen und fordert uns auf, Lebensläufe und an die Regierung der DDR gerichtete Einreiseanträge einzusenden. Monatelang sind wir damit beschäftigt, immer neue Anfragen des Moskauer Roten Kreuzes und der Konsularabteilung der DDR zu beantworten, die Antworten noch einmal zu präzisieren. Dann endlich, am 15. Februar 1956, erhalten wir die offizielle Mitteilung, dass unseren Ausreiseanträgen stattgegeben ist, dass aber die Ausstellung der Dokumente noch etwa eineinhalb Monate dauern wird.
In der Tischlerei fertigen die Häftlinge zwei Kisten für den Transport unserer spärlichen Sachen an. Wir kündigen unsere Arbeitsverhältnisse, kaufen für Tajas Mutter von unseren gemeinsamen Ersparnissen ein kleines Häuschen. Da jetzt außerdem eine zum Teil vor dem Krieg gezeichnete Staatsanleihe ausgezahlt wird, wir aber über einen möglichen Geldumtausch nichts in Erfahrung bringen können, beschließen wir, noch einmal zusammen zum Schwarzen Meer zu fahren.
So verbringen wir den März 1956 im Süden. Wir fahren am 28. Februar aus Soswa ab, genießen den Frühling im Kaukasus, die Küste, die malerische Blumenpracht. Wir bleiben 16 Tage in Sotschi, fahren mit dem Schiff nach Suchumi, von dort aus mit dem in Grusia umgetauften deutschen Reparationsdampfer nach Sewastopol und von dort aus über Moskau zurück nach Soswa.
In Moskau erfahren wir, dass wir unsere fertigen Ausreisepapiere in zehn oder fünfzehn Tagen erhalten, und kümmern uns um Fahrkarten, Gepäcktransport und Zoll. Noch immer fällt es uns schwer, an diese Wendung unseres Lebens zu glauben.
NACH 23 JAHREN WIEDER IN BERLIN
Der letzte halbe Monat in Soswa vergeht wie im Fluge. Wir packen die beiden Kisten, die die Sträflinge für uns angefertigt haben – unser Gepäck besteht hauptsächlich aus Büchern und Fotoalben, mehr brauchen wir nicht, hat uns doch Mutter in Swerdlowsk ziemlich deutlich gesagt, dass wir den Großteil der Kleidung, die wir hier tragen, in der DDR nicht anziehen können. Hauptsächlich sind wir mit dem Umzug von Vera Iwanowna in ihr Häuschen beschäftigt.
In den letzten Tagen geht es bei uns wie im Taubenschlag zu, ein Kommen und Gehen. In der schon halbleeren Wohnung drängen sich Leute mit den unterschiedlichsten Anliegen – ob wir nicht irgendwelche Aufträge in Serow, Swerdlowsk oder Moskau erledigen können, ob wir nicht dieses oder jenes, was wir nicht mehr brauchen, verschenken wollen, ob wir nicht versuchen könnten, ein Buch oder Noten oder irgendwas zu kaufen. Vor allem aber melden sich Freunde, Bekannte, Kollegen und Nachbarn, die noch einmal mit uns sprechen oder sich verabschieden wollen: Unsere Ausreise ist ein außergewöhnliches Ereignis in einer außergewöhnlichen Zeit.
Vor wenigen Wochen ist nämlich der 20. Parteitag der KPdSU zu Ende gegangen und hat Erwartungen und Hoffnungen bei den Menschen geweckt. Das betrifft natürlich nicht die üblichen sterotypen Jubelreden auf dem Kongress, sondern das abschließende Referat Chruschtschows in der geschlossenen Sitzung, das in groben Züge aber bald bekannt wird. Das Referat wird zwar in Presse und Rundfunk nicht erwähnt, aber den Parteimitgliedern (also im Wesentlichen den Offizieren) angeblich in vollem Wortlaut vorgelesen. Wenngleich den Zuhörern untersagt wird, etwas mitzuschreiben, werden hinter vorgehaltener Hand Chruschtschows Enthüllungen weitergegeben, und überall wird über eine zweite, weitaus durchgreifendere Entstalinisierungswelle getuschelt, obwohl Chruschtschow auch von den «großen Verdiensten» Stalins sowie von den trotzkistischen, sinowjewistischen und bucharinistischen «Verrätern» gesprochen hat. Dennoch wird die fehlerhafte Politik des «Großen Führers»
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