Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
von der Rednerbühne eines Parteitages aus verurteilt. Es ist davon die Rede, dass die «Wiederherstellung der sozialistischen Gesetzlichkeit» eingeleitet werden soll. Den Menschen in Soswa erscheint unsere Abreise schon als ein erstes Ergebnis des durch den Parteitag eingeleiteten neuen Kurses.
Auch ich bin von Zuversicht erfüllt. Ich beginne zu glauben, dass jetzt, genau in diesem Moment, in dem auch mir wieder Flügel zu wachsen scheinen, die internen Machtkämpfe im sowjetischen Politbüro abgeschlossen seien und nun die Phase der Errichtung eines «wirklichen Sozialismus» beginne. Die Freundlichkeit, mit der man uns überall in Moskau empfängt – sei es im Roten Kreuz oder in der DDR-Botschaft –, bestärkt mich in diesem Glauben. Bei der Zollabfertigung öffnet man nicht einmal unsere zwei Kisten, und am Fahrkartenschalter werden wir außer der Reihe abgefertigt.
Auf der Fahrt von Moskau nach Berlin versuche ich Taja, so gut es geht, auf die neue Lebenssituation einzustimmen. Ich male mir unsere Ankunft in Berlin aus, die «Luxusvilla» in Babelsberg, meine künftige Arbeit. Ich kann nicht schlafen, gehe auf den Gang hinaus, komme ins Abteil zurück und wandle wieder unruhig umher. Endlich – am Morgen des 26. April 1956 – fahren wir über die Oder-Brücke und halten im Bahnhof von Frankfurt.
Der erste ernüchternde Eindruck: völlige Menschenleere. Ich bin etwas enttäuscht. Hatte ich etwas anderes erwartet? Aber dann kommen Grenzer und Zollbeamte, die, kaum zu glauben, deutsch sprechen und – sehe ich recht? – in Uniformen stecken, die fast wie Wehrmachtsuniformen aussehen.
Dann beginnt Deutschland: Wälder und Wiesen, kleine Steinhäuser mit Gartengrundstücken, asphaltierte Chausseen. «Ich dachte», sagt Taja, «in Deutschland gäbe es nur Fabrikhallen und Schornsteine. Dass wir so lange durch Wälder und Felder fahren, hätte ich nicht geglaubt.» In Erkner halten wir auf dem Bahnübergang, hinter geschlossener Schranke wartet eine ältere Frau mit einem Fahrrad und einem Hund im Korb: Ein Hund im Fahrradkorb – unvorstellbar in Russland! Taja ist beeindruckt.
Dann fahren wir nach Berlin hinein. Erst kommen die nüchternen Vororte, dann die Mietskasernen der Ostbezirke. Ich schaue wie gebannt hinaus und registriere erschüttert, dass noch immer, elf Jahre nach den Bombennächten, riesige Schutthalden in den Himmel ragen. Es gibt befahrbare Straßen, aber kaum Verkehr. Nur wenige Fußgänger, ganz selten ein Auto.
Unter dem Glasdach des Ostbahnhofes vervielfältigen sich die Echos, als sich unser Zug langsam in die Halle schiebt. Mutter, Hans und irgendwelche Leute, denen wir vorgestellt werden, schütteln uns freudig die Hände, laufen hin und her. Auch wir werden von der Hektik erfasst. Shenja wird auf den Arm genommen, herumgereicht und bewundert. Er ist im Grunde der Einzige, der alles mit selbstverständlicher Miene aufnimmt.
Taja schaut mit großen Augen umher und wird selbst bestaunt. Die Russinnen, mit denen die Leute hier gewöhnlich in Berührung kommen (meist Offiziersgattinnen), sind dick und selbstbewusst. Sie verachten alles Deutsche und tun so, als gäbe es die deutsche Sprache gar nicht. Taja aber ist rank und schlank, modebewusst und bemüht sich, in der fremden Sprache einige Freundlichkeiten zu äußern.
Auf dem Bahnhofsvorplatz, wo ein Kleinbus auf uns wartet, sehe ich mich um. Auch hier, mitten im Zentrum, gibt es noch richtige Ruinen, Tapetenfetzen halten der Witterung stand. Dort ist sogar ein zerbrochener Spiegel zu sehen und da die Rückwand eines seltsam in der Luft hängenden Schranks. Gespenstisch! Das hätte ich nicht für möglich gehalten.
Zunächst werden wir zum Zentralkomitee der SED in der Wilhelm-Pieck-Straße gebracht. Ich, der «Arbeitsmobilisierte» aus dem Sewurallag, werde im Politbüro empfangen – von Karl Schirdewan, der damals als der zweite Mann nach Ulbricht gilt. Obwohl er meine Odyssee in der Sowjetunion mit keinem Wort erwähnt, spüre ich, dass er bemüht ist, das mir widerfahrene Unrecht wiedergutzumachen. Er lässt Tee bringen und nimmt sich Zeit für ein längeres Gespräch mit mir. Mutter versucht andauernd, sich einzumischen, doch Schirdewan lässt sie nicht zu Wort kommen.
Für Schirdewan bin ich ein Bilderbuchfall unter den Russlandrückkehrern: jung, zukunftsorientiert, tatendurstig und obendrein mit einem sowjetischen Diplom in der Tasche! Viele der aus der Sowjetunion Kommenden sind krank, mutlos, haben Angehörige
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