Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
verloren. Dennoch bleiben, wie ich später erfahre, mehr als 90 Prozent der Rückkehrer in der DDR, wo man sich bemüht, sie mit einer Wohnung und Rente zu versorgen.
Schirdewan erkundigt sich, ob wir eine Unterkunft haben, und bietet uns das für Rückkehrer vorgesehene Startgeld in Höhe von 5000 Mark an. Hans besteht jedoch darauf, dass sich die Partei um nichts zu kümmern braucht: Für die Wohnung sei gesorgt, für Geld auch. Ich getraue mich nicht, zu widersprechen – was sich natürlich als Fehler erweist.
Am Ende des Gesprächs schlägt Schirdewan mir vier Arbeitsstellen vor: als Übersetzer der Lenin-Werke beim Institut für Marxismus-Leninismus, als Mitarbeiter des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts beim ZK (später «Gewi-Akademie»), als Lektor an der Babelsberger Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft «Walter Ulbricht» und schließlich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften, wie die DDR-Akademie damals noch heißt.
Mutter will mich gern an die Babelsberger Akademie haben, wo sie Institutsdirektorin ist 18 , doch lasse ich mir nicht hineinreden. Durch ihre Schilderungen glaube ich mir ein Bild von der neugeschaffenen Hochschule machen zu können, die Diplomaten ausbilden soll und in der Parteilichkeit mehr zu gelten scheint als Wissenschaft. Dasselbe nehme ich – wie sich später herausstellt, zu Unrecht – vom Gewi-Institut an. Bleiben also zwei Angebote: Lenin-Übersetzung und Akademie der Wissenschaften.
Zu Lenin habe ich damals zwar noch ein unkritisches Verhältnis, doch widerstrebt es mir, mich ins stille Kämmerlein zurückzuziehen und mir über die richtige Übertragung Lenin’scher Termini zu brüten. So entscheide ich mich für die Akademie der Wissenschaften.
Schirdewan scheint über meinen Entschluss nicht erstaunt. Er telefoniert sofort mit einem Abteilungsleiter des Instituts für Geschichte und kündigt mich als vielversprechenden Absolventen einer sowjetischen Universität an.
Danach wird über Tajas beruflichen Neuanfang gesprochen. Man bringt sie bei der günstigerweise in Babelsberg gelegenen DEFA in einem Bereich unter, wo der Schwerpunkt auf dem Erlernen der Sprache liegt. Nach wenigen Tagen tritt sie ins Orchesterbüro der DEFA ein. Zufrieden verlassen wir schließlich das ZK-Gebäude.
Der Kleinbus zuckelt mit uns in Richtung Potsdam. Auf der Ausfallstraße am Schönefelder Flugplatz wundere ich mich, dass schon wieder die Papiere vorgezeigt werden müssen. Dann rollen wir, West-Berlin südlich umfahrend, durch nichtssagende Ortschaften. Ich sehe angespannt aus dem Fenster, versuche, Anzeichen eines sozialistischen Wandels zu entdecken. Aber sosehr ich mich bemühe: Die Häuser, die heruntergekommenen Fassaden, das Pflaster, die Straßenbahnen, die Menschen – sie weisen solche Anzeichen nicht auf.
NACHWORT VON EUGEN RUGE
Wolfgang Leonhard, der 1935 als Vierzehnjähriger zusammen mit seiner Mutter vor dem Nationalsozialismus in die Sowjetunion geflohen ist, kehrt 1945 mit der «Gruppe Ulbricht» nach Deutschland zurück. Eine Zeitlang arbeitet er in der sowjetischen Besatzungszone im Parteiapparat, als Dozent an der Parteihochschule. 1949 flieht er nach Jugoslawien und schließlich nach Westdeutschland. Fünf Jahre später veröffentlicht er nach einem, wie er es nennt, «qualvollen Prozess des Zweifels und der Rechtfertigung» einen Bericht über seine Jahre in der Sowjetunion, der unter dem Titel «Die Revolution entlässt ihre Kinder» berühmt werden wird.
Wolfgang Ruge, der 1933 als Sechzehnjähriger zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder in die Sowjetunion flieht, sieht Deutschland erst Jahre nach Wolfgang Leonhard wieder. Im Gegensatz zu Leonhard, der während des Krieges die Kominternschule besucht und als Rundfunksprecher im Sender «Freies Deutschland» arbeitet, hat Ruge viele Jahre im Gulag und in der Verbannung verbracht. Trotz allem wählt er 1956 die DDR als Wohnort. Er flieht nicht nach Westdeutschland. Ein Bericht über seine Erfahrungen in der Sowjetunion erscheint erst ein halbes Jahrhundert später .
Die Frage, warum mein Vater nach dem, was er im «Gelobten Land» erlebt hat, nicht in den Westen gegangen ist, wird mir noch heute oft gestellt. Dass mehr als 90 Prozent der Rückkehrer aus der Sowjetunion die DDR gewählt haben, sagt nichts über die Gründe seiner Entscheidung. Einen einfachen, persönlichen Grund nennt er in seinem Buch selbst (und lässt
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