Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
vielen Jahren endlich zu lesen bekam, stellte ich fest, dass ich viele der Ereignisse und Episoden schon aus seinen Erzählungen kannte. Und doch war, was ich las, neu. Obwohl es das Gleiche zu sein schien, unterschied es sich stark von dem Gehörten. Was ich las, waren keine Anekdoten, klang keineswegs gelassen und distanziert. Es war der Bericht eines verletzbaren und verletzten Menschen, und erst jetzt begriff ich, dass das Lächeln, das er aufzusetzen pflegte, wenn er in seinem Sessel saß und blasphemische Pointen abschoss, nichts anderes gewesen war als Abwehr .
Wolfgang Leonhard war Zeuge des Terrors. Wolfgang Ruge hat den Terror erlebt . Neben vielen anderen Gründen, die ihn gehindert haben mögen, seinen Bericht in einer plausiblen Frist zu vollenden, ist es die Tatsache, dass seine Erlebnisse nicht nur schwer oder ernüchternd waren, sondern – ich erlaube mir, dieses allzu oft gebrauchte Wort zu verwenden – traumatisch . Wolfgang Ruge hat, so glaube ich, zeitlebens nach einer angemessenen Form für die Verarbeitung seines Traumas gesucht. Und das ist der zweite Grund für die komplizierte Entstehungsgeschichte dieses im Grunde nie fertig gewordenen Buches.
In einer Fußnote des Originalmanuskripts bemerkt Wolfgang Ruge: «Ich stütze mich hier auf Notizen und z. T. schon recht ausführliche Aufzeichnungen, die ich in großen Abständen seit den sechziger Jahren angefertigt habe.»
Diese Aufzeichnungen sind verloren. Die frühesten erhaltenen Texte stammen aus den achtziger Jahren. Sie sind Teil einer umfassenden Familiengeschichte 2* der Ruges, die im 17. Jahrhundert mit dem ersten eindeutig nachweisbaren Vorfahren einsetzt. Vielleicht ist es symptomatisch, dass Wolfgang Ruge sich seiner eigenen Geschichte vorsichtig, über den Umweg einer Familiengeschichte nähert, als brauche er einen Anlauf. Die ersten sieben Bände des umfangreichen Werkes sind den Vorfahren gewidmet, vor allem den rugischen, aber, soweit bekannt, auch den aus Sibirien Stammenden. Diese Bände schließen Kapitel über seine Eltern, seinen Bruder Walter oder seine Frau Taissja Ruge ein.
Der achte Band sollte den Nachfahren gewidmet sein, also vor allem mir, seinem Sohn, und möglicherweise den Enkeln. Er ist nie geschrieben worden.
Erst die Bände neun bis dreizehn waren für seine eigene Lebensgeschichte reserviert, von der Kindheit bis in die Nachwendezeit. Geschrieben hat er indes nur die Bände neun bis elf, das heißt, von der Kindheit des Autors bis zu seiner Rückkehr aus der Sowjetunion . Dieses Textmaterial zerfällt wiederum in zwei zu sehr verschiedenen Zeiten geschriebene Hälften: die Zeit von der Kindheit (Band neun) über die Moskauer Jahre bis zur Deportation nach Kasachstan (Band zehn); und die Zeit der Zwangsarbeit und der anschließenden Verbannung (Band elf).
Die erste Hälfte des Manuskripts wurde in den achtziger Jahren geschrieben. Wie sich aus verschiedenen Anmerkungen und nachträglich eingefügten Fußnoten rekonstruieren lässt, beginnt Wolfgang Ruge 1981 mit der Arbeit, also kurz vor seiner Emeritierung. Schon vorher ist er vom Posten eines Abteilungsleiters zurückgetreten, um weniger Zeit mit administrativer Arbeit verschwenden zu müssen, seitdem zieht er sich immer öfter in sein Sommerhaus auf Rügen zurück, wo er unter anderem an seinen Erinnerungen arbeitet. Wenngleich er auch nach seiner Emeritierung noch in Arbeitsprojekte des Akademieinstituts eingebunden ist, bleibt es erstaunlich, dass ein Mann, der in 26 Jahren seines aktiven Berufslebens über 800 Publikationen zusammengebracht hat (darunter viele Bücher und umfangreiche Beiträge zu Sammelbänden), im Verlauf von sieben oder sogar acht Jahren nicht über die erste Hälfte des geplanten Projekts hinauskommt.
Zwar beginnt er noch in den achtziger Jahren an Buch elf (Zwangsarbeit und Verbannung) zu schreiben, bringt es aber nur auf vier Absätze, dann reißt der maschinengeschriebene Text ab und wird, nunmehr computergeschrieben, mit der lapidaren Bemerkung «Fortsetzung (aufgezeichnet 1998)» wieder aufgenommen. Ganz offensichtlich sind es die Ereignisse im November 1989, die die Unterbrechung verursachen. Fast zehn Jahre lang ruht das Manuskript nun. Wolfgang Ruge wendet sich anderen Arbeiten zu. Unmittelbar nach der Wende schreibt er ein kleines Buch, in dem er als Historiker mit dem Stalinismus abrechnet: «Stalinismus – Sackgasse im Labyrinth der Geschichte» (Deutscher Verlag der Wissenschaften 1991); danach mehrere
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