Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Vorgefallene berichten. «Und keine Papiere dabei?», fragt er. Doch, den Studentenausweis. Den Pass hätte ich dummerweise zu Hause vergessen. Er schaut das Foto an, stockt bei dem Namen, lässt seine Sekretärin aber im Institut anrufen. Zum Glück ist die Direktionssekretärin am Apparat: Ja, ja natürlich, den Genossen Ruge kenne man sehr gut. Dann bin ich wieder auf der sonnenüberströmten Straße. Vorsichtig drücke ich mich am Zaun entlang, damit mich die Kinder nicht wiedererkennen.
Ein paar Tage später wird Walter verhaftet. Seine neue Freundin Ala steht weinend vor unserer Tür: Walter sei vor einigen Tagen nicht mehr nach Hause gekommen, NKWD-Leute hätten die Wohnung durchsucht.
Als Erstes frage ich, was Walter bei der Verhaftung anhatte. Nach allem, was ich über die fernen Lager weiß, benötigt man dort unbedingt Wintersachen. Ala bestätigt meine Befürchtungen – er trug nur Hemd, Hose und Sandalen.
Zweite Frage: ob sie versucht habe herauszubekommen, wo er sich befindet. Ja, sie habe mit einem kleinen Bündel (Wäsche, Socken) bei verschiedenen Gefängnissen angefragt, aber überall die Auskunft erhalten, dass es keinen Untersuchungshäftling Walter Ruge gäbe.
Dritte Frage: ob bei der Hausdurchsuchung etwas beschlagnahmt worden sei. Ja, ein deutsches Buch, sie wisse nicht, wie es heiße, aber auf dem Schutzumschlag sei ein Panzer gewesen. 7 Außerdem, sagt Ala, habe man einen kleinen Zettel mitgenommen, auf dem sich Walter, wie sie glaube, die Wellenlängen ausländischer Sender notiert habe. Das sieht nun wirklich böse aus.
Sie bittet mich, sie zu besuchen und aus Walters deutschen Büchern und Papieren alles auszusondern, was ihn belasten könne. Man wisse ja nicht, ob es zu einer zweiten Durchsuchung komme. Die Fahrt in die Moskauer Vororte ist bereits riskant. Neuerdings kann man die Stadt nur noch mit einem besonderen Passierschein verlassen. Aber es geht noch mal gut. Bei Walter verbrenne ich einige Briefe und ein paar Bücher, zwar alles sowjetische Veröffentlichungen, aber … man kann nie wissen. Es könnte ja auch der Autor eines bereits erschienenen Buches als «Volksfeind» entlarvt worden sein.
Wenige Tage danach erhalte ich erneut eine Vorladung zum Wehrkreiskommando. Dort führt man mich durch endlose Korridore in ein fast leeres Zimmer. Obwohl ich noch keine Erfahrung mit der Tscheka habe, begreife ich sofort: NKWD. Hinter einem Schreibtisch thront der zunächst leutselige Untersuchungsrichter. In der Ecke steht ein Schemel – für den, der verhört wird, also für mich.
Verhör über Walter. Ich bin schon klug genug, mich dumm zu stellen. Was er lese, wie sein Freundeskreis aussehe, ob er sich mit Radiobasteleien beschäftige. Ich sage, dass ich darüber nichts aussagen könne, wir hätten uns nur sehr selten getroffen. Namen werden genannt – ich gebe vor, mich an keinen einzigen zu erinnern. Der Untersuchungsrichter scheint mir nicht recht zu glauben. Aus einigen seiner Wendungen höre ich versteckte Drohungen heraus, tue aber so, als verstünde ich sie nicht. Das Verhör nimmt mich ziemlich mit. Wegen eines Spionagevorwurfs kann Walter im Handumdrehen erschossen werden. Aber auch mir kann es wegen mangelnder Bereitschaft zur Entlarvung von «Volksfeinden» an den Kragen gehen.
Einen Monat nach Ausbruch des Krieges beginnen die Luftangriffe auf Moskau. Die Flugzeuge kommen immer nachts. Auf den Häusern hat man Sandsäcke gelagert; uns hat man beigebracht, wie Brandbomben gelöscht werden. Freiwillige patrouillieren von nun an auf den Dächern, auch Veronika und ich verbringen nun fast jede Nacht auf dem flachen Blechdach unseres Hauses. Nach Mitternacht, vor allem gegen Morgen, ziehen sich die Stunden zäh dahin. Wir kauern uns neben einen Schornstein und erzählen uns Geschichten – einschlafen darf man nicht. Wenn deutsche Flugzeuge die Absperrungen durchbrechen, schauen wir gebannt auf den Himmel – Scheinwerfer blitzen auf, Flakschüsse ertönen, Leuchtraketen hinterlassen ihre Spuren auf der Himmelskuppel. Mitunter sehen wir ein oder zwei faschistische Flugzeuge, die in großer Höhe von Nordwesten heranschweben. Sie orientieren sich offenbar an der Achse Leningrader Chaussee, Gorki-Straße, Roter Platz. Von Dutzenden Scheinwerfern eingefangen, ziehen sie im Schnittpunkt der Lichtkegel scheinbar lautlos und langsam dahin. Bomben werden nicht abgeworfen, zumindest habe ich das kein einziges Mal gesehen. Wahrscheinlich sind die Piloten da oben vollauf
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