Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
hat sich drei Bücher eingesteckt – Veronika einen Band Lermontow und zwei Bände Erinnerungen von Schauspielern; ich das Lateinlehrbuch von Krichatzki (besitze ich heute noch!), den «Faust» und einen Aphorismenband von Goethe (wenn ich nicht irre, den 33. Band der Ausgabe letzter Hand).
Das Wetter ist herrlich, so gar nicht kriegsmäßig. Wir gehen viel spazieren – morgens, mittags, nachmittags. Langsam schlendern wir über den Roten Platz, gehen am Kremlufer entlang. Die Museen sind leider alle geschlossen. Man sieht, wie riesige Kisten aus ihnen abtransportiert werden, nichts soll dem Feind in die Hände fallen. Rechnen die Oberen mit der Einnahme Moskaus? Darüber hört man nichts. Dafür meldet das Sowinformbüro tagtäglich die Aufgabe weiterer Städte. In den letzten Lageberichten tauchen bereits Ortsnamen auf, die wir als Moskauer Erholungsgebiete kennen. Schauerlich.
Wenn die Dämmerung naht, eilen wir nach Hause. Komplikationen wollen wir auf jeden Fall vermeiden. Abends begegnet man immer mehr Streifen und Wachsoldaten. In unserer Gegend werden auch schon Barrikaden errichtet.
Die Abende ziehen sich hin. Zu Freunden gehen können wir nicht, jemanden einzuladen scheuen wir uns. So ist das Auftauchen der beiden Soldaten die einzige Abwechslung. Wenn sie fort sind, versuchen wir zu lesen, doch die Gedanken schweifen ab. Beim Ertönen der Alarmsirenen gehen wir zu Bett. Vielleicht kommt morgen vor Sonnenaufgang der Lkw.
Am 14. Tag unseres Wartens schlägt das Wetter um. Regen und heftiger Wind. An diesem Morgen werden wir abgeholt, man drängt uns zur Eile. Ewig kann man sich nicht mit uns über die Schwiegermutter streiten – ob sie mitmuss oder nicht. Die Soldaten zeigen uns, dass ihr Name auf der Liste steht, wir zeigen ihnen, dass es keinen Stempel in ihrem Pass gibt. Was tun? Die Zeit wird knapp. Unerfahren, wie die Rekruten sind, geben sie schließlich auf. Und tatsächlich wird Veronikas Mutter später nicht mehr geholt. Wie Menschenschicksale vom Zufall abhängen! Hätte ich Veronikas Mutter vor 14 Tagen zu Hause angetroffen, hätte ich ihren Pass zur Miliz gebracht, wäre sie höchstwahrscheinlich in Kasachstan zugrunde gegangen.
Der Motor des vor dem Hause parkenden Lastwagens läuft. Auf den nassen Brettern sitzt schon eine Familie – Vater, Mutter, sechzehnjährige Tochter. Später erfahre ich auch ihren Namen: Ginze (richtiger wohl: Hintze). Wir nicken uns zu. Zwei, drei Straßen weiter hält der Lkw wieder. Eine neue Familie wird aufgeladen. Das wiederholt sich, bis die Ladefläche voll ist. Dann bleibt der Wagen in einer unbebauten Straße am Stadtrand lange stehen. Der Regen nimmt zu, die Leute verkriechen sich unter Decken und Zeltplanen, manche unter alten Zeitungen. Mein Mantel ist nass und schwer. Niemand begreift, warum es nicht weitergeht. Doch dann tauchen andere Lkws auf, gleicherweise mit Menschen bepackt: Sammelpunkt.
Nach mehreren Stunden zieht unsere Lastwagenkolonne durch Moskau. Eine letzte Fahrt durch die Gorki-Straße. An der Kreuzung zum Ochotnyj Rjad ist die Ampel rot. Passanten schauen zu uns hinauf. Jemand sagt: «Da transportiert man die Deutschen ab.»
Man bringt uns zum Kursker Güterbahnhof. Unser Zug steht schon bereit – 30 oder 40 schmutzig rote Waggons. Während man uns verlädt, hört der Regen endlich auf. Später schaut sogar die Sonne hervor.
Veronika und ich kommen in Waggon Nummer 14, zusammen mit 46 Personen, zwei kleinen Kindern und rund hundert Koffern in einem Güterwaggon. Unbeschreibliches Durcheinander. Mit Mühe und Not ergattere ich auf der zweiten Pritschenetage ein Plätzchen für uns – nicht mehr als 30 Zentimeter für jeden. Gepäckstücke werden hin und her geschoben, Plätze getauscht. Langsam legt sich die Aufregung. Zögernd machen sich die Leute miteinander bekannt.
Wieder vergehen Stunden. Auf den Pritschen wird getuschelt, hier und da auch getrunken oder gegessen. Der Zug wird von Soldaten bewacht. Wer austreten muss, darf aussteigen. Vor den Türen der Nachbarwaggons bilden sich kleine Gruppen. Bald flanieren die Leute am Zug entlang. Auch ich steige die wacklige Behelfstreppe hinunter und trete zu einer Gruppe, die sich um den NKWD-Obersten gebildet hat. Höflich, aber ausweichend beantwortet er Fragen. Ein wohlbeleibter Herr, tadellos gekleidet und gepflegt, lässt sich nicht so leicht abweisen. Er heißt Brinkwirt-Altaiski und gibt sich als Mitglied der Lenin-Akademie für Landwirtschaft zu erkennen. Die Würde
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