Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
mit ihrer eigenen Sicherheit beschäftigt. Aber auch wenn keine Bomben geworfen werden, haben die Luftangriffe den Effekt, dass die Moskauer Bevölkerung um den Schlaf gebracht und zermürbt wird. Manchmal werfen sie an Fallschirmen hängende Riesenkerzen ab (von den Russen «Tannenbäume» getauft), die die verdunkelte Stadt beleuchten – ein merkwürdig faszinierender Anblick.
Nach einiger Zeit enthebt man mich – den Deutschen – meines Beobachtungspostens auf dem Dach und bedeutet mir, ich solle bei Fliegeralarm in der Metro verschwinden. Veronika, die sich unter diesen Umständen nicht mit mir solidarisieren kann, bleibt übernächtigt zurück.
In den großen Luftschutzbunker der Untergrundbahn gehe ich nur einmal. Frauen, Kinder, Greise strömen dorthin, werden von Ordnern in die langen Tunnel eingewiesen, schlafen auf mitgebrachten Decken und Kissen zwischen den Schienen. Niemand redet. Die Leute mustern mich misstrauisch – was will der junge Mann hier? Ein Feigling? Unten im Tunnel vergeht die Zeit noch langsamer. Man sieht nichts, hört nichts – schon deshalb ist die Stimmung deprimierter als unter freiem Himmel.
Statt meine Nächte in den U-Bahn-Schächten zu verbringen, ziehe ich mich unbemerkt in die Wohnung zurück. Schlafen kann ich dort genauso wenig. So knipse ich, während es am Himmel blitzt und rattert, unter der Bettdecke ein funzelartiges Lämpchen an (niemand darf hier Licht bemerken) und lese – die neue Hamlet-Übersetzung von Pasternak! Für eine Weile vergesse ich alles – dieses idiotische Versteckspiel, den Krieg, die ungewisse Zukunft.
Morgens, nach der Entwarnung, kommt Veronika mit dunklen Rändern unter den Augen ans Bett. Sie muss sich zum Dienst fertig machen, ich kann – welch ein Widersinn – auch am Tage schlafen, habe ja noch immer Urlaub.
Als der Urlaub zu Ende ist, bin ich froh, dass ich mich als Möbelschlepper und Lastenträger betätigen darf. Das Institut wird leer geräumt, weil in den Räumen ein Lazarett eingerichtet wird. Niemand weiß, wohin mit der Einrichtung. Das meiste stapelt man vorerst im Hof. Nach drei Tagen ist das Gebäude leer geräumt. So sitze ich im verlassenen Nebenflügel des Instituts und büffle für die letzte Prüfung. Indes fehlt mir die innere Ruhe. Ich empfinde mich als Zuschauer der Weltgeschichte, als tatenlos inmitten eines reißenden Stroms. Manchmal kommt es mir vor, als sei ich durch eine außerirdische Macht festgekettet. Dann sitze ich stundenlang vor dem leeren Zeichentisch und starre die Wände an.
Einmal stecke ich mir eine papirossa an, lasse das brennende Streichholz in Gedanken auf den Tisch fallen. Plötzlich frisst sich eine kleine Flamme in den Lack der Tischkante. Ich kann mich nicht rühren, sehe zu, wie das Feuer sich züngelnd ausbreitet, raffe mich schließlich auf, es zu löschen.
Seither kokle ich jeden Tag. Auch den Schrank senge ich an, zufällig natürlich. Aber wenn ich ehrlich bin: Ich habe das Streichholz, das am Schrankbein landet, ziemlich gezielt hingeworfen, eigentlich hingelegt. Bin ich ein Pyromane? Kein Wunder wär’s in dieser Welt, wo das Feuer immer weiter um sich greift. Und was nicht verbrennt, das verkommt.
TEIL II • DIE STEPPE
VORLADUNG
Dass ich nicht lange neben dem Krieg herlaufen würde, war mir von Anfang an klar. Sein Strudel würde mich erfassen. Aber wie?
Ich komme von der letzten Prüfung im Fach Geschichte der UdSSR nach Hause (der Dozent und ich hatten in dem völlig leeren Auditorium auf dem Fensterbrett gesessen) und finde eine Vorladung von der Miliz vor. Auf dem hektographierten Papier steht: «als Zeuge in … Angelegenheit». Der Platz, wo die drei Punkte stehen, ist nicht ausgefüllt: Geht es wieder um Walter?
Im engen Korridor des Milizreviers warten zwei Dutzend Menschen. Gesprächig sind sie nicht, doch erfahre ich, dass sie alle als «Zeugen» geladen sind. Unverständlich. Ein Beamter ruft die Namen auf. Offenbar sind alle erschienen. Jeder wird gefragt, ob er auch die Pässe der mit ihm zusammenwohnenden Personen mitgebracht habe. Da ich nur meinen Ausweis dabeihabe, muss ich noch mal nach Hause traben. Schwiegermutter ist aber noch nicht von der Arbeit zurück. Nur mit Veronikas Pass eile ich wieder zur Miliz. Dort warten die Leute noch immer. Nach einer endlos scheinenden Zeit wird ein Ehepaar aufgerufen. Einige Minuten später kommen sie zurück, die Frau weinend, der Mann verstört. Wortlos verschwinden sie.
Als Nächster bin ich dran. Der Mann
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