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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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in vieler Beziehung besser dran war als andere Fernstudenten. Ich konnte während der Arbeitszeit für Direktstudenten gehaltene Vorlesungen besuchen, ich kannte die Mitarbeiter der Institutsbibliothek und durfte zum Beispiel Bücher, die für die Ausleihe gesperrt waren, mit nach Hause nehmen; die Professoren (an deren Vorlesungsvorbereitung ich sogar manchmal durch die Bereitstellung von Kartenmaterial beteiligt war) gewährten mir vorgezogene Prüfungen, usw. Obwohl ich in ewiger Zeitnot lebte, fühlte ich mich ausgezeichnet. Endlich war ich dabei, meinen langgehegten Traum zu verwirklichen.
    Unglücklicherweise mussten Veronika und ich kurz nach Beginn meines Studiums das Zimmer am Arbat-Platz räumen. Aber dieses Mal half mir mein Bruder Walter, eine Bleibe zu finden. Es war eine geräumige, fast villenartige Datsche in Kutschino, die, wenn ich nicht irre, dem Technischen Direktor des Bolschoi-Theaters gehörte. Er vermietete seine Datsche, in der er im Sommer natürlich selbst wohnte, vor allem wegen der Betreuung seines Schäferhundes.
    In Kutschino hatten wir anfangs eine sehr schöne Zeit. So müde wir waren, unternahmen wir fast jeden Abend einen Spaziergang, lauschten dem geheimnisvollen Treiben im Wald, bestaunten den Mond und schauten den dahinziehenden Wolken nach. Dann aber wurde es kälter und kälter. Wir mussten Schnee schippen, das Wasser im Vorratsfass fror ein, der Ofen heizte nur ungenügend. Als Veronika eine Bronchitis bekam, blieb uns nichts anderes übrig, als den Mietvertrag zu kündigen und zu ihrer Mutter zu ziehen, wo Veronika auch vorher gewohnt hatte.
    Die – für Moskauer Verhältnisse allerdings nicht ungewöhnliche – Enge, in der wir dort lebten, kann man sich heute kaum vorstellen. Veronika und ich richteten uns ein durch ein Bücherregal und einen Vorhang abgegrenztes, fensterloses Eckchen von vielleicht drei Quadratmetern ein, in dem gerade ein Bett und ein winziger Tisch Platz hatten. Rechts von uns, nur einen Meter entfernt, schlief Anna Iwanowna. In der Wohnung wohnte außerdem Veronikas Vater, der von Anna Iwanowna geschieden war. Er schlief auf dem Absatz des kalten Treppenflurs und hielt sich auch dort auf, wenn er zu Hause war. Er lebte als Fremder zwischen seinen Familienmitgliedern und durchquerte das Zimmer nur, wenn er zur Arbeit ging. Schließlich wohnte noch Veronikas Bruder hier, er hatte sich über dem väterlichen Schlafplatz eine Art Hochbett gebaut und sich dort mit einem Schränkchen voller Rundfunk-Bastelzeug eingerichtet. Wir alle hörten jedes Wort, jedes Räuspern der anderen. Wenn Veronika und ich vor dem Einschlafen miteinander flüsterten, zogen wir die Decke über den Kopf. Um unsere Zärtlichkeiten zu übertönen, ließen wir das Radio mitunter bis spät in die Nacht laufen.
    Unwahrscheinlich, aber wahr: Trotz dieser Widrigkeiten verlief unser Leben in der 3. Twerskaja-Jamskaja insgesamt äußerst harmonisch. Vater Iwan ignorierte uns weitgehend (zur Kenntnis nahm er mich erst drei Jahre später, als er mir ins Lager schrieb, er würde mich «räudigen Fritzen» wegen der Verführung seiner Tochter verklagen). Dafür gestaltete sich das Verhältnis zu Veronikas Mutter umso herzlicher. Anna Iwanowna war eine ernste, von Sorgen gebeugte Frau, die ihre Tochter über alles liebte. Sie arbeitete in der Schokoladenfabrik Krasnyj Oktjabr («Roter Oktober») und erzählte haarsträubende Dinge von dort. Die geringen Löhne der Arbeiterinnen waren ursprünglich damit gerechtfertigt worden, dass sie nach Herzenslust Schokolade und Pralinen essen durften. Jüngst war dies jedoch verboten worden, ohne dass eine Lohnerhöhung erfolgte. Mehrere Kolleginnen waren wegen Verstoßes gegen das neue Verbot verhaftet worden. Auch gab es Verhaftungen wegen neuerdings gesetzlich verfolgten Verspätungen am Arbeitsplatz (für eine Verspätung von mehr als 20 Minuten kam man ins Gefängnis).
    Obwohl ich durch meine Arbeit, das Studium und die Fahrten nach Perlowskaja zu Vera und unserem Töchterchen voll ausgelastet war, fanden Veronika und ich Zeit für Gespräche über die allerorts spürbaren gesellschaftlichen Veränderungen. Jede Woche besuchten wir die berühmte Sandunowski-Sauna (wo die Geschlechter natürlich getrennt waren). Oft streiften wir danach durch das Gewimmel im Moskauer Zentrum, beobachteten die Menschen oder blieben vor den Schaukästen der Kinos stehen, in denen fast nur noch patriotische Filme liefen.
    Gut erinnere ich mich an den 1. Mai 1941, an

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