Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Hausverwaltung kontrolliert, ob alle Scheiben kreuzweise mit Papierstreifen beklebt sind, damit sie beim Zerspringen nicht herausfallen können.
Schlangestehen auch im Wehrkreiskommando. Im Flur die Losung «Jeder wird gebraucht!». Als ich aber den Einberufungsbefehl und meinen «Pass» (eigentlich Personalausweis) hinüberreiche, in dem, wie in der Sowjetunion üblich, auch die Nationalität eingetragen ist, schüttelt man nur den Kopf: «Sie können einstweilen nach Hause gehen.» Was soll das heißen?
Mit dem Gefühl, überflüssig zu sein, gehe ich durch die Straßen. Auch im Institut werde ich nicht gebraucht. Historische Karten werden, da nun Geschichte gemacht wird, nicht mehr benötigt. Ich frage meinen Chef, ob ich an den Arbeitseinsätzen für noch nicht einberufene Studenten teilnehmen soll. Er gibt mir einen freundschaftlichen Rat: «Nehmen Sie unbezahlten Urlaub.»
Zehn Tage nach Kriegsbeginn sitze ich zu Hause über meinen Büchern und lerne für die letzten Prüfungen des zweiten Kurses. Der Lautsprecher des zentralen Radio-Übertragungsnetzes bei den Nachbarn stört mich. Dann horche ich auf: Stalin spricht! Es ist der 3. Juli, sein erster Auftritt nach Kriegsbeginn. Sein georgischer Akzent ist stärker als sonst. Nach jedem zweiten Satz trinkt er Wasser. An der Front muss es böse aussehen, wenn sogar er zugibt, dass Litauen, Belorussland, die Westukraine von den Deutschen besetzt, dass große Truppenteile abgeschnitten sind. Aber Pessimismus lässt er nicht gelten. «Vorwärts, zu unserem Sieg», presst er heraus.
Wenn Stalin in seiner Rede davon spricht, dass die Völker der Welt, einschließlich des deutschen Volkes, unsere Verbündeten seien, so trifft das auf die Deutschen in der Sowjetunion offenbar nicht zu. Mich hat man ins Abseits gestellt. Während 1000 Kilometer weiter westlich (oder nur noch 500?) ein tödlicher Kampf tobt, lerne ich russische Geschichte. Um der Hitze und den überall in der Stadt lärmenden Lautsprechern zu entkommen, fahre ich ins Naherholungsgebiet Serebrjanny bor am Moskwa-Fluss. Ideale Stille dort, Ausflügler gibt es nicht mehr. Ich liege im Gras, fertige Exzerpte, schaue einem Käfer zu, der unermüdlich einen Grashalm hinauf- und hinunterkrabbelt. So verbringe ich einige Tage. Als ich wieder an der Endhaltestelle des Trolleybusses aussteige und zu meiner Studierwiese gehe, steht plötzlich ein schwerbewaffneter Soldat vor mir: «Halt, Hände hoch!»
Ich werde abgeführt. Im Gebüsch steht eine Flak, sie muss gestern aufgebaut worden sein. Der Soldat macht Meldung: «Deutscher Spion gefangen!» Das sieht schlecht aus. In meiner Tasche steckt mein Pass mit dem Nationalitäteneintrag. Der Offizier, der die Meldung entgegennimmt, weiß offenbar nicht, wohin mit mir. Ein richtiger Unterstand ist noch nicht eingerichtet, eine Arrestantenzelle erst recht nicht. Wahrscheinlich will er mich, ohne sich selbst bloßzustellen, loswerden. So befiehlt er: «Unter Bewachung von drei Mann zur Miliz bringen!»
Ich werde verwarnt: «Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts gilt als Fluchtversuch. Es wird sofort scharf geschossen!» Es ist das erste Mal, dass ich dieses «sibirische Vaterunser» höre. Aber auch für die Soldaten, die mich eskortieren, hat das Abführen Neuigkeitswert – der Krieg ist ja gerade erst drei Wochen alt. Einer geht hinter mir, zwei gehen seitlich, ihre schussbereiten Gewehre auf mich gerichtet – hoffentlich drehen sie nicht durch. Ich darf mich nicht umdrehen und muss die Hände auf dem Rücken halten (meine Bücher und Papiere habe ich in den Gürtel gesteckt). Kinder laufen herbei und schreien aufgeregt: «Ein Fritz! Ein Spion!» Ein Alter stößt über die Gartenpforte hinweg Verwünschungen aus.
Vor dem Dorfsowjet, wo sich die Miliz befindet, stehen Dutzende von Leuten. Auch das noch! Indes schlägt es zu meinem Vorteil aus. Wegen der Einberufung eines Teils der Ortsjugend ist es in den Amtsräumen gedrängt voll – der Milizchef hat keine Zeit für mich. Als ich sage, ich hätte keine Papiere bei mir, lässt er mich kurzerhand in eine Zelle sperren. Durch die Bretterwand höre ich, wie einer der Soldaten unbeholfen ein Protokoll über meine «Verhaftung» und «Übergabe» diktiert. Mit diesem Schriftstück ziehen meine Bewacher ab. Danach scheint man mich vergessen zu haben.
Jetzt heißt es Nerven bewahren. Ein Lichtblick tut sich auf, als der Chef mittags abgelöst wird. Der Neue lässt mich vorführen und sich über das
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