Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
dem wir vom Fenster einer Bekannten aus verfolgten, wie die Truppen zum Roten Platz marschierten, die Zwölferreihen der Infanterie, die Lärm und Gestank verbreitenden Panzer. Stärker als je zuvor war mir das Militär unheimlich. Vor einem halben Jahr hatte man die zaristischen Rangbezeichnungen wieder eingeführt. Man sprach von Soldaten, statt von Rotarmisten und hatte sich auf die kirchenslawische militärische Grußformel ( Sdrawija shelajem! – «Wünschen Wohlergehen!») besonnen. Die Schule und vor allem die Berufsausbildung waren hochgradig militarisiert. Viele Menschen hatten das Gefühl, dass es demnächst «losgehen» müsse. Dennoch scheute man sich, das Wort «Krieg» in den Mund zu nehmen. Noch Mitte Juni 1941 dementierte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS* Meldungen über deutsche Truppenkonzentrationen an der sowjetischen Westgrenze.
Der 22. Juni ist ein Sonntag. Ich erwache kurz nach sieben. Veronika schläft noch an meiner Schulter. Ich schalte leise das Radio ein. Ein deutscher Sender, zuerst unklar, aber dann mit erschreckender Deutlichkeit: «… zwei rote Jagdflugzeuge über Ostpreußen abgeschossen. Unsere Luftwaffe beherrscht den gesamten Luftraum bis …» Träume ich? Haben mich die Grübeleien über die Kriegsgefahr um den Verstand gebracht? Oder war es bloß ein Manöverbericht?
Mit zitternder Hand suche ich Radio Moskau. Aber hier wird lediglich die schon bekannte Meldung wiederholt: «Gestern wurde ein deutsches Kampfflugzeug über England abgeschossen» – Ende der Nachrichten. Schließlich suche ich den BBC. Nur schwer verstehe ich die englischen Worte, aber allmählich wird es zur Gewissheit. Krieg! Deutschland hat die Sowjetunion überfallen!
Ich drehe das Radio ab. In die Stille hinein pocht mein Herz. Wehmütig schaue ich Veronika an. Die letzten Minuten der Ahnungslosigkeit.
Dann energisches Klopfen an der Wohnungstür. Gestellungsbefehl für Veronikas Bruder, der erst vor wenigen Monaten aus einem technischen Truppenteil entlassen worden ist. Die Schwiegermutter mault: «Was die nur in aller Herrgottsfrühe von dem Jungen wollen!? Als ob sie nicht bis Montag warten können, wenn so ’n Apparat kaputtgeht.» Valentin kommt mit nacktem Oberkörper aus der Küche, das Handtuch über die Schultern gehängt. Ich nehme ihn beiseite und sage, was ich gehört habe. Mit zusammengepressten Lippen wiegt er den Kopf hin und her.
Veronika ist inzwischen erwacht. Sie streift die Bettdecke halb weg und streckt sich genüsslich aus. Sonst schäkere ich am Sonntagmorgen gern mit ihr, heute aber nicht. Sie schaut mich enttäuscht an. Wir frühstücken schweigend. Veronika schmollt ein bisschen. Nach dem Frühstück schlage ich vor, meinen Bruder in Shelesnodoroshnaja zu besuchen. Dabei denke ich: Wird er, werde ich den Krieg überleben? Vielleicht unsere letzte Begegnung.
Auf der Straße nehme ich Veronikas Arm:
«Liebes, es ist Krieg.»
«Seit wann?»
«Seit heute Nacht.»
Wir schweigen. Sprechen ist sinnlos. Als wir aus der Metrostation Kurskaja auf den Bahnhofsvorplatz treten, sind die Menschen ringsum erstarrt. Lautsprecher dröhnen über der Freifläche. Molotow spricht: «Heimtückisch überfallen … Wir werden siegen!»
Walter ist nicht erstaunt über unseren Besuch. Bleich lächelt er zur Begrüßung. Dazu eine hilflose Handbewegung. Er hat nicht nur Molotow gehört, sondern davor schon Goebbels. Und die ersten faschistischen Frontberichte. Unsere Truppen scheinen zurückzuweichen.
Am Montagmorgen Riesenschlangen vor den Brotläden. Die Leute kaufen Brot zum Trocknen, für schwarzen Zwieback. Ein paar Tage später werden wieder Brotkarten eingeführt.
Menschenschlangen auch anderswo, zum Beispiel auf dem Hof des Milizreviers, wo alle Rundfunkgeräte abgeliefert werden müssen. Vorsichtshalber bringen wir gleich Valentins Bastelzeug mit. Die Geräte werden achtlos in einem Schuppen gestapelt: «Rückgabe nach dem Krieg …»
Die Begeisterung für Deutschland ist mit einem Schlage erloschen. Von irgendwoher breiten sich Gerüchte über Bombardierungen frontnaher Städte aus. Es wird erzählt, dass Sowjetfeinde in Minsk oder Mogiljow die faschistischen Piloten mit Lichtsignalen zu den angeflogenen Zielen dirigieren. Auch Moskau richtet sich auf Luftangriffe ein. Über die Kremlpaläste sind riesige graugrüne Netze gespannt. Vor den Schaufenstern werden Sandsäcke gestapelt, Straßen werden nicht mehr beleuchtet, Fenster verdunkelt. Ein Beauftragter der
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