Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
nimmt mir die beiden Pässe ab und sucht meinen Namen in einer Liste. «Und Iwanowa?», fragt er, «Ihre Schwiegermutter?» Meiner Erklärung scheint er nicht zu glauben. Wahrscheinlich um Instruktionen einzuholen, geht er ins Nebenzimmer. Derweilen stempelt die Sekretärin in unseren Pässen herum. Was geht hier vor?
Als der Beamte zurückkommt, sagt er: «Den Pass der Iwanowa reichen Sie heute noch nach, verstanden?» Richtig verstehe ich ihn aber erst in der nächsten Minute, als mir der Milizionär Folgendes eröffnet:
Die Regierung hat beschlossen, Sie und Ihre Angehörigen aus Moskau zu evakuieren. Heute ist Dienstag (es war der 2. September 1941), am Sonnabend, kurz vor Sonnenaufgang, kommt ein Lastwagen und bringt Sie zum Bahnhof. Bis dahin haben Sie Ihre Arbeitspapiere in Ordnung zu bringen und sich Verpflegung für 15 Tage zu beschaffen. Sie dürfen zwei Gepäckstücke pro Person mitnehmen. Möbel und sonstige Einrichtung lassen Sie in Ihrer Wohnung. Die Regierung garantiert Ihnen, dass Sie zu gegebener Zeit Ihr gesamtes Eigentum zurückerhalten. In den drei verbleibenden Tagen dürfen Sie sich, solange es hell ist, frei in Moskau bewegen. Die Stadt zu verlassen ist unter allen Umständen verboten, auch wenn Sie im Besitz irgendwelcher Dienstreiseausweise, Passierscheine oder dergleichen sein sollten.
Mich juckt es, zu fragen, wie die Regierung ihre Entscheidung begründet, doch das ist sinnlos. So erkundige ich mich lediglich, wohin wir gebracht werden sollen.
«Steht im Pass», antwortet der Beamte trocken. Ich schaue hinein. Die Moskauer polizeiliche Anmeldung ist durchgestrichen, darunter prangt ein breiter Stempel: Dieser Pass ist nur gültig im Gebiet von Ksyl-Orda.
Zu Hause Veronikas fragender Blick.
«Ausgewiesen aus Moskau», sage ich, «nach Kasachstan.»
«Beide?»
Ich nicke. Sie schmiegt sich an mich:
«Zusammen werden wir das schon überstehen. Hauptsache, man trennt uns nicht … Es sei denn, du kämst an die Front, da ließe sich nichts ändern.»
Ich zeige Veronika die Stempel. Wir beschließen, den Pass ihrer Mutter nicht nachzureichen. Vielleicht gelingt es uns ja, die alte Dame vor der Verbannung zu bewahren.
Am nächsten Tag melde ich mich in der schon in Auflösung befindlichen Kaderabteilung des Instituts. Man händigt mir meine Papiere aus. Ich sitze zum letzten Mal in meinem Arbeitszimmer, überlege, ob ich meine Zeichensachen mitnehmen soll. Als Zeichner werde ich in Ksyl Orda wohl kaum arbeiten, und den Platz in den zwei erlaubten Koffern brauche ich für andere Dinge. Immerhin stecke ich mein Reißzeug ein, es wiegt ja nicht viel.
Mein Gehalt will mir jedoch niemand auszahlen. Ein Kollege, der mir ein paar hundert Rubel schuldet, schlägt vor, ich solle ihm meine Adresse dalassen, er würde das Geld nachsenden. Tja, wenn ich meine Adresse wüsste …
Veronika hat mehr Glück. Sie erhält ihr Gehalt, dazu Urlaubsgeld und obendrein eine Prämie. Um unseren Reiseproviant zu vervollständigen, kaufen wir alles, was man auf Karten bekommen kann. Auch die Bezugsscheine für Textilien lösen wir ein, sind ja ohnehin nur in Moskau gültig. So ergänzen wir unsere Garderobe mit weißen Hosen und Tennisschuhen – fürs Wüstenklima!
Der Sonnabend kommt. Lange vor Morgengrauen wachen wir auf, setzen uns auf unsere Koffer und warten, aber nichts geschieht. Sonntag, Montag – niemand holt uns ab. Am Dienstagabend erscheinen zwei Soldaten, denen man noch die gestrigen Studenten ansieht, fuchteln mit ihren Bajonetten herum und erkundigen sich, ob wir noch da sind. Nach der Schwiegermutter fragen sie nicht. Am nächsten und übernächsten Tag kreuzen sie wieder auf, gebärden sich aber schon viel zivilisierter – haben wohl gemerkt, dass wir weder Agenten noch Menschenfresser sind. Jedenfalls stellen sie ihre Gewehre gleich in eine Ecke.
Ausgesprochen feindselig sind indes die Nachbarn geworden. Seit dem ersten Auftauchen der Soldaten grüßt uns keiner mehr. Nun darf auch Veronika, als Frau eines Deutschen, bei Fliegeralarm nicht mehr aufs Dach. Verrückte Welt: Die Luftangriffe, die das Leben ringsum außer Rand und Band bringen, bescheren uns geruhsame Stunden zu zweit. Zum ersten Mal sind wir nachts allein in der Wohnung.
So vergehen zehn oder zwölf Tage. Alle Sachen sind längst gepackt, wieder ausgepackt und verstaut. Stets von neuem fragen wir uns, ob wir nicht noch dieses oder jenes mitnehmen sollten. Aber unsere vier Koffer platzen so schon fast auseinander. Jeder
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